Schneller. Das war der einzige Gedanke, der in Marits Kopf herumwirbelte, während sie durch den Wald hastete. Ihr Herz hämmerte, ihr Atem ging stoßweise und eine bleierne Anspannung fraß sich durch ihre Knochen. Die rauen Seile, die ihre Hände auf den Rücken fesselten, gruben sich unangenehm in ihre Haut und juckten erbärmlich, als bestünden sie aus Brennnesseln. Dabei war das viel größere Problem die schwarze Augenbinde, die trotz des unebenen Waldbodens immer noch perfekt über ihren Augen saß und nicht einen Millimeter verrutscht war. Anscheinend wollte niemand bei ihr ein Risiko eingehen. Doch das würde sie nicht hindern. Dieses Mal würde sie es schaffen. Dieses Mal würde sie ...
Ein Kanonenschuss dröhnte in ihren Ohren und scheuchte einen Schwarm Vögel über ihrem Kopf auf. Sie konnte ihn nicht sehen, aber dafür hören. Die Flügelschläge, das aufgeregte Gekreische, das Geraschel der Blätter. Verdammt! Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Sie musste sich beeilen.
Mit flatternder Brust rannte sie weiter und versuchte trotz des wilden Rauschens in ihren Ohren jedes Geräusch in sich aufzusaugen. Äste knackten unter ihren Füßen, Amseln trällerten und ein Bach gluckerte westlich von ihr. Sie krauste die Stirn und fokussierte sich auf ihren inneren Kompass. Er war einer der Dinge, die ein Eisgeborener beherrschen sollte. Auch wenn sie zugeben musste, dass er ihr noch immer Probleme bereitete. Das Kompasslesen war eine Sache, aber der innere Kompass?
Die Ältesten aus ihrem Dorf meinten stets, dass ein wahrer Eisgeborener den Weg auch blind und taub finden würde. Sie schnaubte. Vermutlich sagten sie das nur, da Hör- und Sehsinn sie aufgrund ihres Alters schon längst im Stich gelassen hatten und ihnen nichts anderes übrig blieb. Allerdings konnte es nicht die völlige Unwahrheit sein, denn sie war weder in einen Dornenbusch gestolpert noch mit vollem Tempo gegen einen Baum gestoßen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie diese Wälder bestens kannte. Schließlich grenzten sie direkt an ihr Heimatdorf.
Ein weiterer Kanonenschuss folgte mit einem Donnern, weshalb sie vor Schreck fast gestürzt wäre. Großer Mondgeist!Es fehlte nur noch einer, dann wäre alles vorbei. Sie kniff die Augen zusammen, als könnte es ihr helfen, sich besser zu konzentrieren, und lauschte auf ihre Umgebung. Westlich von ihr lag ein Bach, an dem sie sich orientierte. Irgendwann würde eine schmale Holzbrücke kommen, die sie überqueren müsste. Plötzlich knackte etwas hinter ihr. Es klang viel zu laut, viel zu nah. Ihr Herz machte einen Satz. Sie spürte den Drang sich umzudrehen. Doch welchen Zweck hatte es? Sie musste weiter, immer weiter.
Also rannte sie wieder los, beschleunigte ihr Tempo und betete, dass sie es nicht gleich bitter bezahlen würde. Dornen zerrten an ihrer Kleidung, Äste peitschten ihr ins Gesicht, einer traf sie mit solcher Wucht, dass sie leise aufstöhnte. Ihre Wange brannte und eine heiße Flüssigkeit lief ihr hinunter bis zum Kinn. Auf einmal streifte etwas ihre Schulter. Sanft, als wäre es nur ein Windhauch, aber sie fühlte unverkennbar eine Hand. Sie unterdrückte einen Aufschrei. Am liebsten wollte sie sich von ihren Fesseln befreien, doch sie gruben sich nur noch tiefer in ihr Fleisch. Ein salziger Geruch, der sie an das Meer erinnerte, stieg ihr in die Nase. Es raschelte. Sie spürte einen kaum merklichen Druck gegen ihren rechten Oberschenkel wie ein zusätzliches Gewicht. Ganz leicht, aber eindeutig da. Ein warmer Finger legte sich auf ihre Wange. Kurz verharrte er auf der Stelle, dann wischte er über ihre Kratzwunde. Ein Zittern ging durch ihren Körper. Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Wer war das, bei Nanna?
»Deine Mutter wäre sicher stolz auf dich.«
Es war nur ein Satz. Ein einzelner Satz, doch er brachte ihre Welt zum Wanken. Ihre Mutter? Ihre Mutter war ... Sie biss sich auf die Unterlippe. Lange und viel zu hart, bis sie einen metallischen Geschmack im Mund wahrnahm. Augenblicklich erwachte sie aus ihrer Starre.
»Warte!«, rief sie und hastete blindlings in die Richtung, in der sie den Fremden vermutete. Seine Stimme hatte rau und dunkel geklungen. Sie glaubte nicht, dass sie sie schon einmal gehört hatte. Aber das war völlig irrelevant. Mit schnellen Schritten versuchte sie ihm zu folgen und kämpfte gegen ihre Fesseln an. Sie mussten sich doch endlich lösen!
Fluchend lief sie durch das Dickicht. Der Bach plätscherte direkt neben ihr und half ihr, sich zu orientieren. Wenn sie nur wüsste, wohin er verschwunden war. Mit wummernden Herzen horchte sie auf ihre Umgebung. Da! Ein Knacken. Sie wirbelte herum und sprintete los, als sie in eine tiefe Kuhle strauchelte. Krampfhaft versuchte sie ihre Beine zu stabilisieren, um den Sturz noch zu verhindern, aber es gelang ihr nicht. Wasser spritzte. Kurz war ihr Kopf untergetaucht, spitze Kieselsteine drückten sich in ihren Rücken. Ihr Kleid war mit einem Mal eiskalt. Jäh wurde ihr bewusst, dass die besagte Kuhle das steile Ufer des Baches war. Japsend setzte sie sich auf. Zu ihrem Glück war er nicht sonderlich tief, doch es hatte sie erschreckt. Vollkommen blind und mit gefesselten Händen in einen Bach zu fallen, war definitiv keine angenehme Erfahrung.
»Alles in Ordnung?«
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Die Donari - Lauf des Wassers (LESEPROBE)
FantasyGetrieben zwischen Eis und Wind - wie weit wirst du für die Wahrheit gehen? Als Eisdonara besitzt Marit eine besondere Fähigkeit: Sie kann Wasser kontrollieren - eine Tatsache, mit der sie seit dem Verschwinden ihrer Mutter eigentlich nichts zu tun...