Graveyard Symphony

18 4 1
                                    


Es war still an diesem späten Nachmittag. Eine gewöhnliche und friedliche Stille. Lediglich der Wind sang ein ruhiges, beständiges Lied zu dem das braune Laub knisternd tanzte und gegen die alten, teils bemoosten Steine geweht wurde. Diese Harmonie wurde von dumpfen Schritten auf dem Asphaltweg gestört, die die herabgefallenen Blätter beiseite schoben oder unter sich begruben. So wie einiges an diesem Ort begraben lag.

Der Himmel färbte sich von einem zarten rosa Stück für Stück in ein dunkles Orange und das Farbenspiel übertrug sich auf die gesamte Kulisse. Die Luft war klar und frisch und angenehm kalt. Die junge Frau, die den Asphaltweg entlangging atmete sie zufrieden und geräuschvoll ein und aus, als könnte sie erst an diesem Ort richtig atmen. Ihr Haar fiel glänzend in Locken ihren Rücken bis zur Taille hinab. Sie trug eine schwarze Spitzenkorsage mit blutroten Trägern und dazu einen langen, nachtschwarzen Rock, der zum Boden hin immer breiter wurde bis er darüber schwebte. Ihre Kleidung und ihr Haar machten sie noch eine Spur blasser, was schier unmöglich war.

Diese schwarzweiße Erscheinung war ein unpassender Kontrast in dem schillernden Herbsttreiben. Das einzig Bunte an ihr war ein prächtiger Kranz aus farbenfrohen Blumen, der ihr Haar schmückte. Rosen, Veilchen, Nelken, Margeriten und Dahlien waren mit Schleierkraut und Blättern verflochten und bewegten sich leicht im Wind. Die junge Frau lief zielstrebig auf einen runden Platz zu, zu welchem alle vier Wege dieses Friedhofs führten. In der Mitte blieb sie stehen und lächelte mit einem Hauch von Bitterkeit. Die Szenerie verdunkelte sich im Minutentakt und das Orange wurde zu einem dunklen Tintenblau. Erst als aus der Ferne der donnernde Schlag einer Glocke zu hören war, bewegte sich die junge Frau wieder. Sie hatte eine Streichholzschachtel hervorgeholt und bewegte sich nacheinander auf vier Laternen zu, die zwischen den vier Wegen auf von Laub bedecktem Gras standen und zündete die Kerzen darin an. Sobald die vierte Flamme bläulich aufloderte, begannen nach und nach auf jedem Grab Kerzen zu brennen.

Der Friedhof wurde zu einem warmen Lichtermeer. Die junge Frau begann, sich Blüten aus ihrem Kopfschmuck zu zupfen und diese auf den Gräbern zu verteilen. Vor jedem Stein, der einem toten Menschen gewidmet war, legte sie ein Blütenblatt und schritt danach erneut in die Mitte des runden Platzes. Erneut holte sie etwas aus den Tiefen ihres Rockes hervor, der sich ohne Kerzenschein kaum von der nächtlichen Dunkelheit unterschieden hätte. In ihren Händen hielt sie ein kleines, langes und schmales Instrument. Sanft legte sie ihre Lippen an eine Mündung und ihre Finger auf ein paar der kleinen Löcher.

Eine liebliche Melodie durchschnitt die mittlerweile angespannte und geladene Stille. Das Lied rauschte in Wellen über die Grabsteine und die Blütenblätter richteten sich auf. Sie drehten sich im Klang der Musik und unter ihnen brach die Erde auf. Der Mond hatte sein Versteckspiel mit den Wolken aufgegeben und beleuchtete neugierig die schimmernden Knochen, die aus den Gräbern emporstiegen. Doch sobald die knorrigen Hände der Toten ihr Blütenblatt umfassten, sahen sie aus wie zu Lebzeiten. Der Friedhof war plötzlich voller Leben. Kinder rannten durch Laubhaufen, alte Menschen streckten ihre Knochen und frisch Verstorbene versuchten zu verstehen, was gerade passierte.

Die junge Frau spielte weiter ihre Musik und beobachtete, wie Paare, die sich wiedergefunden hatten, miteinander tanzten. Der Tod schien genauso einsam zu sein, wie man ihn befürchtete. Doch in dieser Nacht hatten sie die Möglichkeit, die Gräber zu verlassen.

Die Stille war Vergangenheit. Die Musik hatte zwar aufgehört, doch die Geister redeten aufgeregt miteinander, sangen und lachten laut. Andere weinten aufgrund ihres Schicksals und die Toten, die ihre erste Nacht hatten, schrien beim Anblick der Geister, die sich verwandelten. Diese Nacht war ein besonderes Geschenk für die Toten. Wie jedes Jahr versuchten einige über die Grenzen des Friedhofs zu schweben, um ihre Familien und Freunde zu sehen, doch es gelang ihnen nicht. In dieser schaurigen und sagenumwobenen Nacht betrat kein Angehöriger den Friedhof.

Doch das helle Kerzenlicht und die Musik ließen die Geister ihre Sorgen für einen Moment vergessen. Zufrieden spielte die junge Frau ein neues Lied. Es war das Lieblingslied der Geister und alle sangen mit.

„Geister groß und Geister klein.

Es kann Freude bringen, tot zu sein.

Doch nur einmal im Jahr.

Nur einmal im Jahr.

Geister jung und Geister alt.

Heut lassen wir die Gräber kalt.

Doch nur einmal im Jahr.

Nur einmal im Jahr.

Grausig hässlich, schrecklich schön.

Die Nacht soll nie zu Ende gehn.

Sie ist nur einmal im Jahr.

Nur einmal im Jahr."

Nach dem Lied ertönte wieder der entfernte Schlag einer Glocke, langsam und zäh wie ein ausgedehnter Seufzer. Die Toten wussten, dass es nun Zeit war, in ihre einsamen und kalten Gräber zurückzukehren. Hoffnung war alles, was ihnen blieb. Die Hoffnung, dass das Jahr schnell vergehen würde und dass vielleicht doch der ein oder andere geliebte Mensch am Grab auftauchen würde.

Die junge Frau beendete ihr Spiel endgültig und sie spürte, dass es kälter wurde, als nach und nach alle Kerzen ausgingen. Mit gesenktem Kopf ging sie einen der Vier Wege entlang, bis sie an der grauen Steinmauer des Friedhofs angekommen war.

Das letzte Grab in dieser Reihe wirkte nicht anders als die anderen. Doch auf diesem lag noch das Rosenblatt, welches die Frau daraufgelegt hatte. Alle anderen Blütenblätter hatten die Toten mitgenommen. Die weiße Hand der Frau umgriff das einst seidige Blatt und hielt es leicht zitternd ins Mondlicht. Es war verwelkt. Langsam senkte die junge Frau ihren Arm und auch ihren Kopf. Ihre Schultern begannen zu beben und ein bitteres Schluchzen erklang. Erstickte Laute pressten tropfende Tränen hervor, die auf das dunkle Grab regneten. Zu schwach, um zu stehen, sank sie auf ihre Knie und umschloss das schwarze, welke Rosenblatt mit ihrer Faust. Sie wollte etwas sagen, doch es kam nur ein hilfloses Wimmern hervor.

Sie verstand die Toten, diese quälende Hoffnung auf etwas, das niemals geschehen würde. Hoffnung auf ein Wiedersehen mit einem geliebten Menschen, der viel zu früh von ihr getrennt wurde. Doch selbst, wenn du den Schlüssel zu den Seelen in deinen Händen hältst, bleibt dir diese eine Seele verwehrt. Diese, nach der du deine Hände voller Sehnsucht ausstreckst.

Graveyard SymphonyWhere stories live. Discover now