Ich stand auf meinem Balkon und starrte in den dunklen Nachthimmel. Der Wind riss unbarmherzig an meinem haselnussbraunen Haar und wehte mir vereinzelt Strähnen ins Gesicht. Es war so kalt, dass mein Atem vor meinem Gesicht zu kleinen weißen Wölkchen kondensierte. Meine Hände lagen auf dem glatten Eis, dass, in kunstvollen Ornamenten, das Geländer meines Balkons bildete.
Es war so kalt, dass ich die Kälte sogar durch den seidenen Stoff meines blauen Morgenmantels spüren konnte.
Zitternd nahm ich meine Hände vom Eis, nur um sie in den, mit weichem Fell gefütterten, Taschen meines Morgenmantels zu vergraben.
Hier würde ich morgen stehen, während mein Vater mir, vor den Augen meines Zwillingsbruders Oktavius und meines Volkes, verkünden würde, dass ich die nächste Tronfolgerin sein würde.
Tausend Augenpaare würden auf mich gerichtet sein, während die SeaLander gebannt den Atem anhalten würden, auf eine Entscheidung, die ihre Zukunft verändern würde.
Ihre Zukunft und meine.
Mein Name würde es sein, der über den großen Platz hallen würde.
Und es würde mein Name sein, der meinem Bruder das Herz brechen würde.
Ich schluckte die aufkommende Übelkeit herunter.
Ich wollte nicht Königin sein.
Oktavius konnte selbst den starrköpfigsten Menschen überreden, ihm zu folgen, er kannte jedes Gesetz auswendig und er war bereit Entscheidungen zu treffen.
Entscheidungen, zu denen ich nie in der Lage gewesen wäre.
Dennoch hatte König Julian an meiner Tür geklopft. Er hatte zu mir gesprochen, mir meine Zukunft verbaut, mit der Entscheidung, die er getroffen hatte.
Eine Entscheidung, von der ich, bis zu wenigen Augenblicken, noch geglaubt hatte, sie würde mich nicht betreffen.
Ich atmete tief ein, saugte die kalte Nachtluft in meine Lungen, drehte mich um und wollte wieder zurück in mein Zimmer gehen, als mir ein Gedanke kam.
Ich beschleunigte meine Schritte, meine nackten Füße erzeugten ein rhythmisches Patschen auf dem weißen Mamorboden, als ich durch die riesigen silbernen Türen ging, die zum Gang führten.
Tagsüber war der Palast voller Leben. Überall liefen SeaLander durch die Gänge aus Glas, Marmor und Eis. Stimmen hallten durch die Zimmer mit hohen Decken, geschmückt mit kunstvoll gearbeiteten Kronleuchtern aus Silber und Bergkristall.
Aber Nachts wirkten die langen Gänge wie ausgestorben und es war beängstigend still.
Ich stolperte kurz über meine eigenen Füße, fing mich aber gerade noch, bevor ich auf den Boden fiel.
Es waren kaum Wachen in den Gängen.
Seltsam wenig Wachen.
Ich runzelte die Stirn, als ich noch nicht einmal Wachen vor den, aus farblosen Bergkristall gehauenen, Flügeltüren entdecken konnte, die den Eingang zum Arbeitszimmer meines Vaters markierten.
Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.
So leise es ging, stemmte ich mich gegen die Türen. Lautlos öffneten sie sich, viel geschmeidiger, als man es von einer Tür dieses Ausmaßes erwartet hätte.
Das Arbeitszimmer meines Vaters hatte eine hohe Decke, die von mehreren Säulen aus Eis getragen wurde. Die Wände waren aus getöntem Glas, welches silbern im Mondlicht schimmerte.
Der Boden bestand aus elfenbeinfarbenem Mamor. Normalerweise wurde der Raum von mehreren Kerzen erleuchtet, die an den Wänden in silbernen Haltern angebracht waren.
Als ich eintrat waren alle Kerzen erloschen und eine gespenstische Stille hatte sich über den Raum gelegt, wie ein dunkler Schleier.
Mein Blick fiel auf den Schreibtisch in der Mitte des Raumes.
Mein Vater hatte mir den Rücken zugedreht. Hinter ihm erkannte ich durch eine riesige Öffnung in der Wand den blauen Fluss, welcher alle drei SeaLands miteinander verband.
Ich lief langsam auf meinen Vater zu.
"Vater?!", fragte ich und meine Stimme hallte zittrig und hohl von den Wänden wieder, "Vater, wir müssen Reden!"
Mein Vater reagierte nicht auf mich. Ich erreichte ihn und streckte die Hand aus, um ihn zu berühren.
Schlagartig zog ich meine Hand zurück. Mein Atem ging schneller und ich taumelte rückwärts, an meiner Hand klebte das rote Blut meines Vaters.
Mein Schrei zerschnitt die Stille, die Totenstille.
König Julian von den SeaLands, mein Vater, war tot. Jemand hatte ihn ermordet.
"Kaylen!" Eine Gestallt trat aus dem Schatten. Hinter sich schleifte er ein Schwert, dessen blutgetränkte Spitze über den Mamorboden kratzte.
Oktavius hatte dieselben Gesichtszüge wie ich; dünne Nase, hohe Stirn und hohe Wangenknochen.
Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie meine, blau und tief, so wie der blaue Fluss.
Einzig sein Haar war anders als meins, dunkelblonde, sonst perfekt gekämmte Locken.
Sein Gesicht wirkte seltsam bleich und kalt, wie als wäre er in weißen Stein gehauen.
"Kaylen", sagte er leise, aber bestimmt, "Sei leise!"
Ich schluckte schwer. Meine Augen sahen die Szene vor mir, aber mein Gehirn war unfähig, darauf zu reagieren.
Oktavius schlaksige Gestalt kam auf mich zu. Meine Nackenhaare stellten sich auf, aber ich konnte mich nicht bewegen.
"Was", flüsterte ich, "Was hast du getan?!"
Oktavius stoppte kurz vor mir. Er war mir so nah, dass ich das Blut riechen konnte, dass an seinem Körper klebte. Das Blut unseres Vaters.
Er hob das Schwert. In der, im Mondlicht schimmernden Klinge, sah ich mein eigenes angsterfülltes Gesicht und hob zitternd die Arme über den Kopf.
Ich hörte wie die Klinge die Luft zerriss, als sie auf mich niedersauste und hörte, wie Wasser über den Boden floss, wie es sich schützend vor mir aufbaute und vor Oktavius tödlichem Schlag beschützte.
Sein schönes Gesicht verzog sich zu einer Fratze. Ich starrte einen Moment perplex ins Wasser, dann endlich registrierte mein Gehirn das Offensichtliche; Oktavius hatte meinen Vater getötet.
Ich spürte wie mein Blut zu kochen begann. Oktavius schleuderte das Schwert von sich.
Wasser strömte über den polierten Mamorboden auf ihn zu. Er wirbelte zu mir herum und eine Wassersäule schoss auf mich zu.
Blitzschnell ließ ich mich fallen und holte zum Gegenschlag aus. Wasser umspielte meine Unterarme. Ich hob die Hände und Oktavius wurde gegen die Wand geschleudert.
Etwas benommen rappelte er sich auf. Wasser rann in kleinen Tröpfchen von seinem Haar, wie millionen Tränen.
Ich hatte kaum Zeit, dass Geschehene zu begreifen, als er eine Salve aus spitzen Eiszapfen auf mich zufliegen ließ.
Mein Schmerzensschrei hallte durch die leeren Gänge des Palastes.
Eissplitter streiften meine Arme, rissen meine Haut auf, sodass mein Blut den Stoff meines Morgenmantels rot färbte.
Ich ging zu Boden.
Ein einziger Eiszapfen hatte sich in meine Seite gebohrt. Ich presste meine Hand auf die Wunde, Blut quoll zwischen meinen Fingern hindurch.
Oktavius rannte auf mich zu, bereit, den Kampf zu beenden, mich zu töten.
Das Wasser verformte sich neben ihm zu einem riesigen Eiszapfen, der im Mondlicht gefährlich aufblitzt, wie die Klinge, die zuvor meinen Vater ermordet hatte.
Für den Bruchteil einer Sekunde fällte ich eine Entscheidung.
Ich rappelte mich auf, auch wenn jede Faser meines Körpers sich dagegen wehrte, drehte mich um und rannte los.
Ich weiß noch, wie der Abgrund vor mir auftauchte und mich das nur noch mehr anspornte, schneller zu rennen.
Wie Oktavius hinter mir vor Wut aufschrie.
Ich wusste, ich würde heute sterben.
Aber ich wusste auch, dass ich Oktavius nicht die Genugtuung geben würde, mich zu töten.
Ich beschleunigte abermals meine Schritte und sprang über die Kante.
Für einen Moment schien es, als würde ich durch die Nacht fliegen.
Dann setzte die Schwerkraft ein. Der Eissplitter flog an mir vorbei, streifte meine Wange, schnitt tief in meine Schulter.
Ich fiel hinab auf die tosende Wasseroberfläsche zu, gleich dem Wasserfall, der dem Palast entsprang.
Im fallen überschlug ich mich mehrmals.
Kälte umfing mich, als ich ins Wasser tauchte und mich die Ströhmung nach unten drückte.
Meine Glieder schmerzten, meine Wunden pulsierten und meine Lungen schrien nach Sauerstoff.
Dann umfing mich die Dunkelheit und alles wurde schwarz
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Die Chroniken von Eralor- Kaylens Lied
FantasyKaylen, die Prinzessin der SeaLands, muss, kurz vor ihrer Krönung, aus ihrem Land fliehen. Sie wird im benachbarten Königreich aufgenommen, jedoch ohne das jemand ihre wahre Identität kennt. Doch zwischen beiden Ländern herrscht seit langem ein une...