Die Morgende danach. Keine Angst, ich lebe noch

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Jess blinzelte verschlafen. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass heute ein besonderer Tag war.
Dann erinnerte sie sich: Der Vampir, die Jäger und ihre Fahrt als blinder Passagier. Wie sie zum Bus geschickt worden war, sich aber zurückgeschlichen hatte und aufs Dach geklettert war, nach dem sie um den ganzen Schuppen herumgelaufen war ohne ein gutes Schlupfloch zu finden.
Und wie sie beinahe nach unten gestürzt wäre.
Zweimal in einer Nacht fast zu sterben war schon beängstigend, irgendwie.
Aber auch aufregend. Sie war ja schließlich nicht gestorben, oder?
Warum also den Kopf darüber zerbrechen. Es gab wichtigeres zu begrübeln. Zum Beispiel, dass sie von den Vampirjägern, der "Crew", wie sie sich nannten, angenommen worden war.
Sie spürte erneut das Adrenalin und die Aufregung durch ihre Adern rasen, als sie daran dachte, dass sie von nun an ein zweites, geheimes Leben führen würde.
Sie würde diese Vampire zerfetzten!
Ohh, sie konnte es kaum erwarten, dieses Geheimnis mit sich herumzutragen und beim Anblick jedes ihrer Klassenkameraden zu wissen, dass sie Dinge wusste, von denen sie nie eine Ahnung haben würden...
Außer bei einer Person. Denn Jess hatte gestern zwar versprochen, dass sie niemandem etwas von der Crew verraten würde, allerdings war sie sich sehr sicher, dass "niemand" nicht Su mit einfasste.

"Hey", Jess ließ ihr Essenstablett gegenüber von Su auf den Tisch knallen, "Du bist am Samstag früh von der Party weg. Woran lags?"
"Müde", Su blätterte unbeindruckt eine Seite ihres Buches um.
"Höhlenkinder" von Julia Harker, soviel verriet das Cover. Sus Lieblingsautorin.
"Du wirst mir nicht glauben was passiert ist", Jess senkte ihre Stimme verschwörerisch, "es ist ein Geheimnis, also versprich mir, dass du es niemandem erzählst!"
"Natürlich nicht", erwiderte Su ohne die Augen von der Seite zu wenden.
"Ich...", begann Jess und machte einr dramatische Pause, "Ich bin jetzt unter die Vampirjäger gegangen."
"Aha", Su griff nach ihrem Trinkpäckchen, "gibt es sonst noch etwas neues?"
Jess stutzte.
"Hast du gehört, was ich gerade gesagt..."
"Selbstverständlich", scheinbar in aller Seelenruhe schlürfte sie den Saft aus dem bunten Tütchen, "du bist unter die Vampirjäger gegangen. Sag mir einfach Bescheid, sobald du keine Lust mehr hast."
"Was?", Jess war vollkommen aus der Bahn geworfen, "keine Lust mehr haben... Su, das wird das große Ding! Das ist das, womit wir groß werden!"
"Wir?", Su klappte ihr Buch zu.
"Aber natürlich!", Jess war gar nicht in den Sinn gekommen, dass Su nicht Feuer und Flamme dafür sein könnte.
"Du willst, dass ich mimache?", fragte Su skeptisch.
"Klar will ich das!", was sollte Jess auch ohne Su auf einem Abenteuer?
"Also schön", das schwarzhaarige Mädchen nahm ihr Buch wieder zur Hand, warf ihrer besten Freundin aber über den Seitenrand noch einen warnenden Blick zu: "Verschätz dich nicht bei dieser Sache, Jess. Das ist vielleicht eine Nummer größer, als du denkst."

Quinn wartete, bis Jess aufgestanden und zur Toilette verschwunden war. Nervös drehte er seine Finger hin und her.
Ihm war aufgefallen, wie sich die Haut auf Sus Nasenwurzel zu einer tiefen Falte zusamnengezogen hatte wie immer, wenn sie die Stirn runzelte und wie ihre Augen sich vereengt hatten, als Jess von ihrem neusten Abenteuer berichtet hatte.
Sie war besorgt keine Frage.
"Was denkst du?", wisperte sie ihm hinter vorgehaltenem Buch zu, sobald Jess außer Sichtweite war.
"Ganz ehrlich? Die schlechteste Idee, die sie je hatte. Bist du dir sicher, dass du da mitmachen willst?" Quinn spürte, wie Furcht unangenehm in seinem Magen kribbelte. Er hatte schon einmal einen Vampir gesehen und er wusste, dass er Su am liebsten so weit wie möglich von diesen Kreaturen entfernt wissen wollte.
Aber Su nickte unmerklich: "Jemand muss auf sie aufpassen."
Quinn seuftzte tief: "Und wer passt auf dich auf?"
"Wer passt auf dich auf, wenn du dich mit unsichtbaren Gangs anlegst?"
"Okay, okay, du hast ja recht. Aber trotzdem. Sei vorsichtig."
Su drehte sich zu ihm um, und in ihren Augen blitzte wieder dieser neckische Funken, den er vermisste, wenn sie schlief: "Ich bin immer vorsichtig, Quin."
Und er wusste, dass sie Recht hatte.

Prüfend drehte Jess sich vor dem Spiegel hin und her. Der schwarze Mantel, den sie herausgesucht hatte, fiel bedrohlich und geheimnisvoll an ihren Schultern hinab.
"Du siehst albern aus", bemerkte Su trocken.
"Auf der Jagd nicht mehr", Jess strich überzeugt ein paar Falten glatt und legte dann den Kopf schief.
Ihr Spiegelbild tat es ihr nach. Vielleicht noch ein paar Nieten an den Schultern?
"Wenn du laufen musst, bleibst du garantiert irgendwo hängen mit dem Ding."
"Ach Su!", Jess drehte sich schwungvoll um, "Ich laufe doch nicht! Die anderen laufen! Hier, probier du mal das hier an!"
Sie zog einen dunkle Lederjacke von einem Kleiderständer und hängte sie Su, die bewegungslos wie eine Kleiderpuppe da stand um die Schultern.
"Ta daa", grinsend bugsierte sie ihre Freundin vor den Spiegel, "na?"
"Willst du mich auf eine Halloweenparty zerren?", mit spitzen Fingern zog Su die Jacke von sich hinunter.
"Wenn du ein Vampirjäger sein willst", skandierte Jess mit mahnend erhobenem Zeigefinger, "dann musst du auch wie einer aussehen."
"Ich war nie ein großer Freund von Dresscodes", das schwarzhaarige Mädchen schon das Kleidungsstück sorgfältig zurück auf einen der Bügel und verstaute es auf dem Kleiderständer.
"Weißt du", sagte sie, als sie sich umdrehte, "vielleicht ist der Stil doch gut geeignet. Vielleicht lachen die Vampire sich tot, bevor sie dich angreifen können."
Aber Jess, in Gedanken bereits bei den aufregenden Dingen, die am nächsten Wochenende auf sie warteten, hörte nicht zu.

BatsongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt