75. Aufprall

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Der Baum, in den der Blitz eingeschlagen hatte, neigte sich gefährlich nah zu mir und ich brauchte eine Sekunde, um die Situation zu erfassen.

"Hanna!", schrie Vito nun immer wieder verängstigt und erst jetzt realisierte ich, dass der Baum genau auf mich drauf fallen würde, wenn ich nicht schleunigst aus dem Weg kam. Seit dem Blitz waren vielleicht nur Sekunden vergangen, doch es kam mir vor wie in Zeitlupe.

Mit einem Satz wollte ich mich in Sicherheit bringen, doch der schlammige Untergrund machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ich rutschte aus, fiel auf den Boden und versuchte wieder aufzustehen. Doch in der Hektik gelang es mir nicht. Ich fand keinen Halt auf dem matschigen Untergrund und panisch versuchte ich aus der Gefahrenzone zu kriechen. Es schien mir, als käme ich nur um wenige Zentimeter vorwärts. Der Regen rann mir in die Augen und meine Handflächen schmerzten. Irgendwie musste ich sie beim Fall wohl aufgeschürft haben.

Der Baum kam immer näher, doch es war wie in einem Albtraum. Man rennt und rennt und rennt, doch kommt nicht von der Stelle. Ich kniff die Augen fest zusammen, während ich versuchte, wieder wegzukommen. Zu langsam, ich war zu langsam!

Und dann kam der Aufprall. Zuerst fiel der Baum einmal auf den Boden und ich schaffte es gerade noch, ein Bein aus der Gefahrenzone zu ziehen. Doch in mein rechtes Bein fuhr ein gewaltiger Schmerz. Durch die mächtige Krone wurde der Baum noch einmal am Boden abgefedert, doch ich war wie gelähmt und konnte die Sekunde, die ich dadurch gewonnen hatte, nicht nutzen. Mit seinem vollen Gewicht fiel der riesige Baum schließlich endgültig zu Boden und mein Bein klemmte direkt darunter. Der Schmerz schoss mir innerhalb von Sekunden durch den gesamten Körper und ich schrie laut auf.

Vito hörte das. "NEIN!! HANNA!!!", schrie er entsetzt und kam sofort zu mir gerutscht. Laufen konnte man das nicht mehr nennen, so wie er durch den Regen und den Schlamm zu mir lief. Meine Schmerzenstränen vermischten sich mit dem Regen und die Kälte machte sich nun deutlich bemerkbar. Der mächtige Baum lag nun mit seinem vollen Gewicht auf meinem Bein. Es war ein lähmender Schmerz und es schien, als hätte der Baum es komplett zersplittert. So fühlte es sich unter den Schmerzen zusammen. Mit seinem gesamten Gewicht lehnte Vito sich nun gegen den Baum und versuchte ihn zur Seite zu schieben. Doch gegen die mächtige Pflanze hatte mein Pferd keine Chance. Außerdem rutschte er mit den Hufen immer wieder ab. Nach einigen panischen Versuchen gab er schließlich auf und legte sich neben mich, um mir Wärme und Trockenheit zu spenden. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, mein gesamter Körper schien durch die Kälte wie eingefroren zu sein und der Schmerz machte alles in mir taub.

"Geh und hole Hilfe.", flüsterte ich schwach und kämpfte gegen den Drang an, einfach die Augen zu schließen und in eine bodenlose Schwärze zu fallen, die der Aufprall hervor gerufen hatte. "NEIN! Ich lasse dich hier nicht allein!", rief Vito entsetzt und rückte näher an mich heran. "Geh schon, allein schaffen wir das nicht!", seufzte ich und legte meine Wange in den Schlamm. Wie gerne würde ich jetzt einfach in dieses schwarze Loch fallen, dass sich vor mir aufgetan hatte. Lange würde ich das nicht mehr schaffen. Die Verlockung war zu groß. Mit klammen Händen löste ich mit letzter Kraft noch die Riemen seiner Trense, damit er sich nicht in den runterhängenden Zügeln verfing. Vito schüttete diese ab und die schwarze Trense fiel neben mir zu Boden,

"Geh schon!", forderte ich ihn noch ein letztes Mal auf, bevor ich endgültig die Augen schloss. Der Regen prasselte mir ins Gesicht, doch zumindest der Wind schien aufgehört zu haben. Oder ich spürte ihn schon nicht mehr.

Das Loch rief nach mir. Mit eisigen Fingern griff die Schwärze nach mir, also ließ ich mich einfach fallen. Die schwere Taubheit der Bewusstlosigkeit legte sich über mich, wie eine Decke und ich konnten nur noch hören, wie Vito mit erstickter Stimme rief: "Hanna, bleib ja bei mir.". Dann bebte der Boden kurz, als er sich entfernte. Ich hörte auf zu fühlen, ich hörte auf zu denken und ich hörte auf zu existieren. Schwärze, überall nur Schwärze.

Moondancer - PferdemädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt