Karina und Sylvie waren nach der Orchesterprobe noch einmal in Karinas Wohnung gefahren, um sich umzuziehen. Sylvie hatte sich diesmal nicht so verausgabt wie gestern, aber dennoch fühlte sie sich gleichzeitig erledigt und aufgekratzt. Außerdem machten sich die Schmerzen im Arm wieder bemerkbar. Sie war aber auch an gar nichts mehr gewöhnt.
Während Karina duschte, machte Sylvie sich hungrig über die altbackenen Golatschen her, die immer noch in der Küche standen. Oder schon wieder? Sie hatte mittlerweile den Überblick verloren, wo diese Bäckereien ständig herkamen. Im Moment kamen sie jedenfalls wie gerufen und sie nahm sich vor, bei Gelegenheit für Nachschub zu sorgen und Karina außerdem morgen zum Frühstück auszuführen. Immerhin beherbergte sie Sylvie einfach so in ihrer Wohnung, da war es wohl das Mindeste, sich mit einigen Abendessen und Frühstücken zu revanchieren. Auch wenn sie vermutete, dass Karina liebend gern ihre eigene Großmutter, oder zumindest irgendein anderes Familienmitglied, verkauft hätte, nur um Sylvie in ihrer Wohnung unterbringen zu dürfen.
Dann war Karina fürs Erste im Badezimmer fertig und Sylvie stellte sich ebenfalls unter die Dusche.
"Darf ich mir dein Bügeleisen leihen?", fragte sie, als sie anschließend in eines von Karinas bunten Badetüchern gewickelt ins Schlafzimmer kam, wo die Andere vor dem Schrank stand und dreinblickte, als habe sie nichts anzuziehen, obwohl mindestens fünf verschiedene Outfits ausgebreitet auf dem Bett lagen.
"Bügeleisen?" Sie griff sich an die Stirn. "Moment, lass mich nachdenken. Das habe ich zuletzt im Vorzimmerschrank gesehen." Sie lief los und begann im Schrank zu wühlen. Sylvie folgte ihr und versuchte dabei nicht allzu perplex dreinzuschauen. "Wie kann es sein, dass du dich daran nicht erinnerst? Verwendest du es denn nie? Was ziehst du denn zu Konzerten an?"
"Bügelfreie Sachen. Hemden und Blusen nach dem Waschen einigermaßen gerade auf einen Kleiderbügel hängen, ist außerdem schon die halbe Miete."
"Vielleicht solltest du doch meinen Bruder heiraten", kommentierte Sylvie mit einem resignierten Seufzer.
"Dann bekäme ich ein massives Problem mit Jitka", antwortete Karina und überreichte Sylvie mit breitem Grinsen eine kleine, halb zerfledderte Kartonschachtel, die aussah, als wäre sie zur Zeit des Prager Frühlings schon knapp vorm Auseinanderfallen gewesen. Vorsichtig öffnete Sylvie den Deckel und brachte erstaunt ein winziges Bügeleisen zum Vorschein, dessen Bügelfläche gerade einmal so groß war wie ihre Hand.
"Das ist jetzt nicht dein Ernst? Hast du das aus dem Spielzeugmuseum geklaut?"
"Das ist süß, nicht wahr? Das ehemalige Reisebügeleisen meiner Oma, und da sie es ohnehin nie verwendet hat, hat sie's mir gegeben, als ich zum Studieren nach Russland ging. Und dann hatten sie dort im Studentenheim genau solche. Naja, die waren vielleicht etwas größer dort ..."
"Kann ich mir vorstellen", sagte Sylvie und schaute das Ding immer noch mit einer Mischung aus Unglauben und Enttäuschung an. Wie vermisste sie ihr eigenes hochmodernes Dampfbügeleisen, das so ziemlich alles konnte. Erik behauptete immer, es könne auch Brot backen, den Müll runtertragen und ein Ruderboot zum Dampfschiff umrüsten. Was natürlich übertrieben war, aber nur leicht.
"Ich weiß jetzt, was du zu Weihnachten kriegst", sagte sie nur.
"Wehe du schenkst mir ein Bügeleisen, dann sind wir geschiedene Leute! Übrigens, im Konzertsaal haben sie ein Besseres. Dein Konzertkleid kannst du dort bügeln, aber für das Opernoutfit wirst du damit hier vorliebnehmen müssen." Karina baute in der Küche einen klapprigen Bügelladen auf und Sylvie blieb nichts anderes übrig, als mit diesem Museumsstück, von dem sie immer noch überzeugt war, dass es eigentlich aus einer sowjetischen Puppenküche stammte, ihren Hosenanzug aufzubügeln.
Als sie schließlich unterwegs waren zum Ständetheater, spürte Sylvie leichtes Unbehagen in sich hochsteigen. Karina hatte sie gestern dazu gebracht, Erik für den Rest des Abends keine Nachricht mehr zu schicken. Sie waren nach der Probe in einer etwas überdrehten Stimmung gewesen und sie hatte, nachdem sie die Wohnung mit dem Koffer und ihren Sachen verlassen hatte, kaum noch an Erik gedacht. Sie war mit Karina noch in einer kleinen Bar nahe der Wohnung etwas trinken gegangen und hatte währenddessen ihr Telefon in der Tasche gelassen.
Erst vor dem Schlafengehen hatte sie einen Blick riskiert und natürlich hatte ihr Bruder sich nicht gemeldet. Ihr einfach so, von selbst zuschreiben, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Sie verkniff es sich, Karina deswegen anzujammern. Die hätte vermutlich nur gemeint, dass es eher ein Grund zur Sorge wäre, wenn er auf einmal unaufgefordert eine Nachricht schickte. Sylvie verstand ja die Absurdität des Ganzen. Sie würde sich so und so Gedanken machen, egal ob er sich überhaupt nicht meldete oder ihr stündlich beteuerte, dass alles bestens war. Schließlich hatte sie ihrer Mutter noch ein paar von ihren Fotos geschickt und dann das Handy ausgeschaltet.
Am Morgen hatten sie dann besprochen, dass es bis zum Opernbesuch ohnehin nicht lange dauern würde. Spätestens da sah sie ihn persönlich. Und zumindest hatte sie den ganzen Tag über nicht viel Zeit für schlechtes Gewissen gehabt.
"Wir sind viel zu früh", sagte Karina und sah auf die Uhr. "Da wäre locker noch ein Aperitif drin gewesen."
"Besser zu früh, als zu spät. Außerdem sind andere Besucher auch schon hier." Noch nicht viele, aber auf dem Platz vor dem Theater bildeten sich die ersten Grüppchen von Leuten, die sich ebenfalls dort verabredet hatten. Als Mutter und Tochter Korolová samt Erik fröhlich tratschend auftauchten, waren die Meisten jedoch schon hineingegangen.
"Sie sind also Sylvie", sagte Jitkas Mutter, nachdem Erik sie ihr vorgestellt hatte. "Freut mich Sie persönlich kennen zu lernen. Ich habe schon so viel über Sie gehört." Sylvie warf einen raschen Blick zu Erik und Jitka, die alle beide genau in dem Moment woanders hinschauten.
"Nur Gutes natürlich!", beeilte Frau Korolová sich hinzuzufügen.
"Sehr angenehm, freut mich ebenfalls, Sie kennenzulernen", antwortete sie höflich, während sie sich fragte, wie ausführlich Jitka ihrer Mutter gegenüber über Eriks unmögliche Schwester abgelästert hatte.
"Wir haben uns übrigens in Moskau schon gesehen", sagte Alena Korolová. "Leider nur ganz kurz. Ich saß neben Karina auf der Galerie, als Jiti ihren Auftritt hatte." Jetzt wusste Sylvie zumindest, woher ihr die Frau bekannt vorkam. Das war also nicht nur auf die unübersehbare Familienähnlichkeit mit ihrer Tochter zurückzuführen. Viel mehr Zeit war nicht für weitere Konversation, da Karina nun endlich die Kuverts mit den Eintrittskarten aus ihrer Tasche hervorgekramt hatte, von denen sie eines Jitka in die Hand drückte. Ursprünglich war auch Jitkas Vater mit eingeplant gewesen, aber der hatte kurzfristig im Orchester einspringen müssen.
"Ich habe leider keine fünf Plätze mehr nebeneinander bekommen, aber Sylvie und ich sitzen nur zwei Reihen hinter euch", sagte sie.
Sie betraten das hell erleuchtete Foyer und stellten sich an der Garderobe an, als Erik unversehens neben Sylvie auftauchte.
"Geht es dir gut?", fragte er sie.
"Natürlich", antwortete sie, nach einem kurzen Moment der Verwunderung. "Warum fragst du?" Sie vermied es, ihn anzusehen.
"Nur so", sagte er. Hatte er sich also doch Gedanken darüber gemacht, warum sie sich nicht meldete? Und dann spürte sie seine Hand, die ihre kurz drückte.
"Danke", sagte er leise. "Ich rechne dir das wirklich hoch an."
"Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst", erwiderte sie mit unveränderter Miene, obwohl seine Worte sie gegen ihren Willen rührten, sie aber gleichzeitig auch ärgerten und ihr einen Stich versetzten. Vor allem ärgerte sie sich über sich selbst. Jetzt bedankte er sich dafür, dass sie ihn in Ruhe ließ. Dabei hatte sie doch nur für ihn da sein wollen. Wohl nicht gerade eines ihrer erfolgreichsten Unternehmen.
Das letzte Klingeln ertönte und nun mussten sie machen, dass sie auf ihre Plätze kamen. "Wir sehen uns nachher im Pausensalon", rief Karina, den anderen zu, während sich diese nach vorne entfernten.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficción GeneralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...