Auf der Fahrt zur Schule erzählte ich Leanne und Lil von Grans Plänen, allerdings in abgewandelter Form, weil Leanne ja keine Ahnung von Euphorias und Despairs hatte und ich auf eine erneute Konfrontation mit meiner Mutter und den anderen Schnepfen vom Rat verzichten konnte. Ich ließ mich bei den beiden darüber aus, wie ungerecht das alles sei und wie sehr sie mich enttäuscht und verletzt hat. ,,Warum zerstört sie immer das bisschen von Leben, was ich noch habe?" Ich hatte ihnen erzählt, dass Gran es hier einfach nicht mehr aushielt, weil meine Mutter hier geboren wurde und jetzt eine kalte, emotionslose Schlange war.
Dann stellte Leanne leise eine Frage: ,,Hast du dich schon mal gefragt, ob sie das nicht vielleicht auch für dich tut?" Ich war verwirrt. ,,Was meinst du?" Leanne seufzte und stellte den Motor ab, weil wir an der Schule angekommen waren. ,,Also schön, ich erzähle euch jetzt den wahren Grund, warum wir hierher gezogen sind." ,,Was hat das eine mit dem anderen zu tun?", fragte ich jetzt völlig verwirrt. ,,Warte es doch erstmal ab. Ihr kennt ja die Variante, die meine Mutter, Will und ich immer erzählen, also dass meine Mutter hierher versetzt wurde. Das ist nur die halbe Wahrheit." Leanne zögerte, bevor sie fortfuhr. ,,Ich hatte mal eine Schwester und einen Vater, wisst ihr. Susan war erst dreizehn und ich war vierzehn. Susan war immer hübscher als ich und ich beneidete sie darum. Susan war beliebt gewesen, sie hatte einfach ein sonniges und fröhliches Gemüt. Wenn sie einen Raum betrat, waren alle Augen auf sie gerichtet gewesen und alle hatten meiner kleinen Schwester zu Füßen gelegen. Ich hingegen hatte es nie so einfach wie sie. Ich war eher verschlossen gewesen, etwas sehr pummelig und hatte Probleme mit den anderen in der Schule. Versteht das nicht falsch. Ich habe sie sehr geliebt, das tu ich immer noch, aber damals dachte ich, ich würde sie hassen.
Es war der Abend an ihrem Geburtstag und Dad und sie waren in der Stadt, weil Susan unbedingt etwas mit ihm machen wollte. Er war oft und lange weg um zu arbeiten, müsst ihr wissen. Er und Mom hatten oft Streit deswegen. Sie warf ihm dann vor, er habe drei Kinder adoptiert und müsse sich auch um sie kümmern. Dad hatte auch oft Schuldgefühle, weil er nicht für uns da war. Susan wünschte sich zum Geburtstag, dass er einmal einen ganzen Tag nur mit ihr allein verbringen sollte und das hat er getan. Susan hat damit vor uns angegeben und ich war deswegen ziemlich eifersüchtig auf sie. Ich hab ihr hässliche Dinge an den Kopf geworfen, die nicht stimmten. Ich hab ihr gesagt, was sie für eine Schlampe doch wäre, dass sie nur einmal mit ihren Äuglein klimpern müsste und alle würden für sie springen. Sie war verletzt und wütend und schrie mich mit Tränen in den Augen an, ich solle das zurück nehmen. Ich weigerte mich. Und schrie sie an, wie sehr ich sie hassen würde." Leanne stützte ihren Kopf in die Hände und Tränen liefen ihr Gesicht herunter.
Als sie weiter sprach, hörte man deutlich den Kloß in ihrem Hals. ,,Sie war traurig und zutiefst verletzt und stürmte aus dem Raum. Wir waren Geschwister und dann streitet man sich halt öfters. Allerdings habe ich sie noch nie so verletzt gesehen, wie an diesem Tag. Später am Tag kam Will zu mir und hat mit mir über diesen Vorfall geredet. Zuerst war ich wütend, weil er sich, wie immer alle anderen auf Susans Seite stellte. Allerdings habe ich dann irgendwann eingesehen, dass er Recht hatte und wollte mich bei ihr entschuldigen. Ich hab sogar als Entschuldigung einen Kuchen gebacken, der nie angeschnitten wurde. Ich habe ihn zusammen mit einem Entschuldigungsbrief auf ihren Schreibtisch gestellt, seit diesem Tag habe ich ihr Zimmer nicht mehr betreten. Ich weiß, dass Mom eines Tages aufgeräumt hat, ob sie den Kuchen und den Brief damals stehen gelassen oder weggeschmissen hat, weiß ich nicht. Jedenfalls waren an diesem Abend Dad und Susan auf dem Highway unterwegs, auf dem Weg nach Hause. Es war kalt, nass und dementsprechend rutschig. Sie haben einen LKW überholt, der genau in dem Moment die Kontrolle verloren hat. Der LKW-Fahrer hat den Unfall zwar überlebt, konnte es aber nicht ertragen, das Leben zweier Menschen beendet zu haben, ob es ein Unfall war oder nicht. Ich habe eine Woche später irgendwo gelesen, dass er sich aufgeknüpft hat. Damals dachte ich, dass er das Richtige getan hat. Heute tut er mir einfach nur noch leid, denn ich weiß nun, wie unwahrscheinlich wertvoll das Leben ist." Leanne stockte. Tränen liefen ihr das Gesicht herunter und ich hatte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. Ich wusste aber, dass sie mein Mitleid nicht wollte, deshalb blieb ich, wo ich war und gab ihr die Zeit, die sie brauchte, um weiter zu erzählen.
,,Mom hat nie vor uns geweint, noch nicht mal auf der Beerdigung. Ich weiß aber, dass sie geweint hat: Ich habe sie oft genug gehört, weil ihr Zimmer neben meinem war. Wir haben alle unterschiedlich reagiert und versucht damit umzugehen. Mom hat sich in Arbeit verbuddelt, Will hat tagtäglich im Fitnessstudio trainiert, war jedes Wochenende auf irgendeiner Party und hat irgendwelche Mädels abgeschleppt und ich... Ich habe mit dem Ritzen angefangen und hab irgendwann versucht, Susans Platz einzunehmen, weil sie mir so sehr gefehlt hat. Ich weiß, dass das völliger Blödsinn war, aber um noch mehr wie sie zu werden, hab ich angefangen ihre Vereinsmitgliedschaften zu übernehmen. Susan war im Tanzverein, Schwimmverein, Kletterverein und hat Gesangs- und Gitarrenunterricht genommen." ,,Wow, sie war echt aktiv", warf ich bewundernd ein.
,,Ja, das war sie. Und sie war gut, in allen diesen Sachen. Ich war es nicht, ich war zu diesem Zeitpunkt ein verbittertes, introvertiertes, übergewichtiges Etwas, mit einer scharfen Zunge. In den Vereinen hab ich einige Leute kennengelernt, die meine Schwester gut kannten und mich einfach kommentarlos in ihre Mitte aufgenommen haben. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet und war zuerst so wie immer: frech und voreingenommen. Mit der Zeit merkte ich allerdings, wie ich ruhiger wurde und nicht mehr ruppig zu ihnen war. Ich übte also alle ihre Hobbys aus und merkte auch, wie ich langsam an Gewicht verlor und wieder gesünder aussah. Ich glaube, ich habe den besten Weg gewählt, um aus diesem Loch wieder rauszukommen. Ich war beliebt und die Leute kannten und mochten mich. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich eigentlich genauso war wie sie. Ich hatte es nur nie wirklich gewollt, ich weiß nicht warum.
Aber eines Tages rief Mom Will und mich zum Essen und verkündete, dass sie sich hat versetzen lassen, dass sie es einfach nicht mehr an dem Ort aushielt, wo Susan und Dad einst lebendig gewesen waren. Ich weiß es klingt komisch, wenn ich das so sage, aber irgendwie habe ich Dad nicht vermisst. Es war nicht so, dass ich ihn nicht geliebt habe, aber er war so oft weg, manchmal aus monatelang, dass es sich einfach so angefühlt hat, als wäre gerade einfach nur auf Geschäftsreise. Ist irgendwie heute noch so. Ich hab jedenfalls auf Moms Ankündigung genauso reagiert wie du: Ich hab ihr Vorwürfe gemacht, mein Leben zu zerstören und sie hat geweint und gesagt, ich wäre ungerecht, wobei sie natürlich Recht hatte. Ich bin jedenfalls zu einer Freundin gefahren und sie hat mir einfach nur genau die gleiche Frage gestellt, die ich dir gerade gestellt habe: ,,Bist du jemals auf den Gedanken gekommen, dass sie das auch für dich tut?" Ich bin wütend geworden und habe sie angeschrien, sie keine wahre Freundin, wenn sie so denken würde und bin raus gestürmt. Ich bin zu Fuß nach Hause gelaufen und meine Wut ist langsam verraucht. Dann habe ich darüber nachgedacht und mich entsetzlich geschämt. Denn sie hatte Recht. Natürlich sind wir nicht nur wegen Mom hierher gezogen, sie hat immer an uns gedacht und immer versucht, in unserem Sinne zu handeln. Ich habe mich bei Mom entschuldigt und bei meiner Freundin auch und jetzt... naja jetzt sind wir hier."
Auf Leannes Geschichte folgte Stille. Ich schämte mich auch ein kleines bisschen, dass ich Gran gegenüber so ungerecht gewesen war. Natürlich tat sie ihr bestes, um mir vieles zu ermöglichen, aber ich vergaß das regelmäßig und nahm es als selbstverständlich. Mir wurde gerade wieder bewusst, wie gut ich es hatte, dass Gran mich vor meiner Mutter gerettet hatte. Es gab genug Leute, die es alleine schaffen mussten und ich heulte rum, weil Gran mich gerettet hatte und mich jetzt bei sich haben wollte! Ich war ihr wirklich keine gute Enkelin! Auch, wenn es für Leanne zu spät war, sich bei ihrer Schwester zu entschuldigen, konnte ich es bei Gran! Ich beschloss, es gleich nach der Schule zu machen und stieß die Tür auf. Obwohl ich spät dran war, machte ich mir keine Sorgen mir keine Sorgen zu spät zu kommen. Meine Geographielehrerin war immer mindestens eine Viertelstunde zu spät, weil sie eine absolute Klatschtante war und mit jedem Lehrer noch eben schnell quatschte, der gerade auf dem Gang war. Also lies ich mir Zeit und ging in die Klasse, wo absolutes Chaos herrschte, weil die Lehrerin, wie erwartet, noch nicht da war. Ich ließ mich auf meinem Platz nieder und stellte mich auf eine chaotische Stunde ein.
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Euphoria (Abgeschlossen)
ФэнтезиEskada, von allen nur Katy genannt, ist eine Euphoria, also jemand, der dafür sorgt, dass die Menschen die Hoffnung nicht aufgeben, egal wie auswegslos die Lage ist. Sie ist dafür verantwortlich, dass es immer einen Ausweg gibt und sie ist nie gesch...