4 - ... und still

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Gefährtin. Gefährtin.
Das Wort hallte in ihrem Kopf wider. Doch ergab es keinen Sinn.
Gefährtin.
Er konnte doch nicht etwa sie meinen?
Schockiert erwiderte sie seinen Blick. Ehe sie in irgendeiner Weise auf das Gesagte reagieren konnte, fing er erneut an zu sprechen.
»Ich weiß, dass du noch keine Seelenträume hast, du bist schließlich erst wie alt? Sechzehn?«
Sie nickte wie in Trance, immer noch verblüfft von der abrupten Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte.
»Genau«, nahm er den Faden wieder auf, »Deswegen erwarte ich auch nicht, dass du mir sofort in die Arme springst oder dergleichen. Wir gehen es selbstverständlich langsam an und lernen uns zuerst einmal kennen und später dann vielleicht auch lieben.«
Während er dies sagte, bedachte er sie mit einem dermaßen hoffnungsvollen Blick, dass sie es nicht wagte ihm diese zu nehmen. Seine blauen Augen strahlten in der Dunkelheit und sie war sogar versucht sich ihm hinzugeben. Er wirkte so ehrlich.
Doch wie sollte sie jemals in der Lage sein an seiner Seite zu stehen? Er war schließlich der Prinz.
Wie konnte sie überhaupt daran denken? Sie verdiente keinen Seelengefährten. Gerade eben hatte sie sich ihrem Schicksal, dass man sie aufgrund ihrer Verbrechen hinrichten würde, noch ergeben und nun zog sie in Erwägung, dass dieser Mann vor ihr ihr Gefährte war. Nein, das Schicksalsband musste sich geirrt haben. Sie verdiente keinen Gefährten.
Sie verdiente ihn nicht.
Sie hatte gar nicht mitbekommen wie sie angefangen hatte wild ihren Kopf zu schütteln. Nicolas hingegen wich nun von ihr zurück. Ein verletzter Ausdruck lag nun in seinen trüben Augen, den er jedoch schnell durch einen ernsten ersetzte.
»Wieso?« Seine Stimme klang fest, auch wenn seine Augen seine tatsächlichen Gefühle preisgegeben hatten, erkannte sie, dass er sonst keine Person war, die sich oft verletzlich zeigte wie er es bei ihr getan hatte.
Tränen der Verzweiflung und zum Teil sogar der Wut stiegen ihr in die Augen, denn sie konnte  ihm nicht antworten und erklären, dass ihre Entscheidung rein gar nichts mit ihm zu tun hatte. Er wurde nun mal als Prinz geboren. Und sie war nun mal nicht gut genug.
»Bitte, erklär es mir«, bat er.
Frustriert fuhr er sich mit beiden Händen durch die schwarzen Haare, die ihm in langen Strähnen wild vom Kopf abstanden. Sein leichter Bartschatten ließ ihn älter und irgendwie ... verruchter aussehen.
Sie öffnete den Mund im verzweifelten Versuch ihm seinen Schmerz zu nehmen. Dennoch kam kein einziges Wort über ihre Lippen. Nur ein leises Schluchzen.
»Wieso antwortest du denn nicht?« Seine Stimme war nun leise, flehentlich geworden.
Langsam hob sie ihre kleine Hand und legte sie über ihren Mund. Dann schüttelte sie den Kopf.
Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen. »Du sprichst nicht?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Oh«, sagte er daraufhin leise.
Sie nahm ihre Hand herunter und blickte beschämt zu Boden. Schon seit sie ihr letztes Wort gesprochen hatte, gab es immer wieder Menschen, die sie wegen ihrer Stummheit anders behandelten. Mitleid oder Argwohn war sie gewohnt und hatte gelernt damit umzugehen, aber noch nie in all diesen Jahren hatte sie sich dafür geschämt so zu sein wie sie war.
Doch nun ...
Sie spürte seinen brennenden Blick auf sich. Er würde bestimmt wütend werden. Wer weiß, ob er sie womöglich schlagen würde?
Ängstlich versuchte sie sich noch enger an die Eiche hinter sich zu pressen und kniff die Augen fest zu.
»Das ändert trotzdem nichts«, beschloss er nach einer Weile.
Perplex riss sie die Augen auf. Wie, es änderte nichts? Es änderte alles!
»Du bist dennoch meine Gefährtin und ich werde dich akzeptieren so wie du bist.« Entschlossen reckte er das Kinn nach oben und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust.
Dies traf sie unerwartet und sie blickte bloß mit riesengroßen Augen zu ihm hoch.
»Du hast schon verstanden. Ich habe zu lange gewartet und gesucht, um dich jetzt einfach gehen zu lassen. Dafür brauche ich dich zu sehr«, betonte er abermals.
Seine Aussage löste Verschiedenes in ihr aus. Einerseits war sie glücklich, dass er offenbar kein Problem mit ihrer Stummheit hatte. Andererseits war sie sich nicht sicher, ob sie wissen wollte, was genau er von ihr brauchte.
Als König würde er Nachkommen brauchen, doch konnte er diese von jeder Frau im Land bekommen, dafür brauchte er nicht speziell sie. Vor allem ging es im Königshaus nicht immer um Ehen aus Liebe, meistens waren es Vernunftsehen mit verschiedenen Adelsfamilien. Demzufolge konnte es ihm auch nicht um Macht gehen, denn sie war bloß eine einfache Untertanin. Die Tochter zweier Bauern.
Worum ging es ihm denn nun?
Ihre Zerrissenheit sah man ihr offenbar an, denn der Prinz beugte sich nun nach unten, um mit ihr auf Augenhöhe sein zu können.
»Ich würde nur zu gern wissen, was in deinem süßen Köpfchen vor sich geht. Aber du wirst es mir wohl nicht verraten, oder?« Ein Lächeln zierte seine Lippen.
Sie konnte nicht anders, als ihn überrumpelt anzublinzeln. Hatte er gerade auf Kosten ihrer Stummheit einen Witz gerissen?
Das hatte bisher noch nie jemand gewagt, zumindest nicht in ihrer Gegenwart.
»Wie wär's, wenn wir jetzt langsam aus diesen dunklen Wald verschwinden? Wir wollen doch nicht, dass ein großer, böser Wolf kommt und das kleine, süße Mädchen frisst, das nicht einmal um Hilfe rufen könnte.«
Er grinste weiterhin vor sich hin, während sie ihn mit offenem Mund anstarrte.
Ehe sie sich jedoch von ihrem Schock über seine Unverblümtheit erholen konnte, kam schon der nächste.
Er beugte sich zu ihr runter und legte ihr eine Hand unter das Kinn, um ihren offenen Mund zu schließen. Dabei flüsterte er ihr ins Ohr: »Mund zu, Liebste. Du willst doch nicht das Worte rauskommen.«
Mit riesigen Augen starrte sie zu ihm hinauf. Sie war nicht beleidigt, nein, sie war Schlimmeres gewohnt, aber von ihm hätte sie das nicht erwartet. Er schien ihr so ... umsichtig. Zumindest bis jetzt.
Doch offenbar verstand er sie nicht so wie sie es erhofft hatte, als er meinte, es würde für ihn nichts ändern, dass sie nicht sprach. Oder er konnte bloß wie all die anderen mit ihrer Stummheit nicht umgehen und würde - um solche Situationen in Zukunft zu umgehen - anfangen sie zu meiden.
Obwohl sie sich eigentlich darüber hätte freuen sollen, dass er ihr fortan aus dem Weg gehen  und wahrscheinlich bald wieder abreisen würde, sackten ihre Schultern ein wenig nach unten und sie begann erneut den Boden unter ihren Füßen zu mustern.
Sie sollte glücklich sein. Sie musste ihn nicht abweisen, weil er von selbst gehen würde, und irgendwo eine angemessene Gefährtin finden. Er würde glücklich sein. Und sie hätte ihre Ruhe.
Dennoch formte sich ein Klumpen in ihren Hals, der sie daran hindern würde zu sprechen, wenn sie denn ihre Stimme benutzen würde.
Der Wald lag in Finsternis um sie herum und sie wollte nichts lieber als sich in eine kuschlige Decke zu hüllen und der Dunkelheit sowie ihren Gefühlen zu entkommen.
Er hatte recht. Sie sollten zurückgehen. In den Wald zu rennen, war nicht ihre beste Entscheidung, dachte sie, vor allem als sie den kalten Wind an ihren entblößten Armen spürte.
Zitternd verschränkte sie ihre Arme vor ihrer Brust und setzte sich in Bewegung um endlich nach Hause zu gehen. Doch sie kam nicht weit, denn Nicolas hielt sie am Arm zurück.
»Warte. Dir ist kalt. Nimm mein Hemd.«
Er hatte sich so schnell seines Hemds entledigt und über ihre Schultern gelegt, dass sie nicht einmal die Möglichkeit hatte, ihn davon abzuhalten. Mit roten Wangen blickte sie auf seine entblößte Brust, die nun unbedeckt der schneidenden Kälte ausgesetzt war. Die definierten Muskeln entgingen ihr ebenfalls nicht, allerdings wandte sie ihren Blick ab, als sie ihr Starren bemerkte.
»Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin schlimmere Bedingungen gewohnt. Hauptsache du wirst nicht krank«, erstickte er all ihre Versuche, ihm das Hemd zurückzugeben, im Keim.
Sie zog aufgrund seines widersprüchlichen Verhaltens ihre Augenbrauen zusammen. Zuerst riss er auf ihre Kosten Witze und nun gab er ihr ohne mit der Wimper zu zucken sein Hemd.
Er lief freiwillig in der eisigen Kälte ohne Oberteil herum. Für sie.
»Kommst du?«, riss er sie aus ihren Gedanken.
Sie nickte.
Während sie sich ihren Weg durch das Dickicht schlugen, bot der Prinz ihr mehrmals seine Hand an, um ihr zu helfen leichter durch das unwegsame Gelände zu kommen. Sie nahm sie jedoch nie an.
Bis auf das gelegentliche Rascheln der Blätter im Wind und das Knacksen der Äste unter ihren Füßen, war es still im nächtlichen Wald.
»Wenn es dir nichts ausmacht würde ich gerne wissen, wie du heißt?«, sprach da Nicolas.
In diesem Moment stolperte sie plötzlich über eine aus dem Boden ragende Wurzel. Ehe sie auf dem Boden aufkam, umfingen sie starke Arme und zogen sie an eine warme Brust. Ihr Atem ging schnell und ihre Finger krallten sich unbewusst an die breiten Schultern ihres Retters. Die - wie ihr gerade auffiel - sehr nackten Schultern ihres Retters.
Tiefrot vor Scham wagte sie es nicht aufzuschauen, nachdem sie sich beruhigt hatte. Ohne sich aus seinen Armen zu befreien, zog sie ihren Fuß zurück, um sich von der Wurzel zu lösen.
Als sie schließlich wieder auf ihren eigenen Beinen stehen konnte, wollte sie sich zurückziehen, doch Nicolas starke Arme hielten sie gefangen. Sofort stieg Panik in ihr auf.
Doch als hätte er dies gespürt, entfernte er seine Arme auf einmal und trat einen Schritt zurück.
»Verzeih mir bitte«, fuhr er sich durch die Haare, »Geht es dir gut?«
Mit großen Augen nickte sie bloß.
Augenblicklich seufzte er erleichtert auf. »Sehr gut. Ich dachte schon, du hättest dich ernsthaft verletzt.«
Von einem Moment auf den anderen verschwand die Besorgnis wieder und Schalk trat in seine Augen. »Dann hätte ich dich allerdings tragen können, was auch seine Vorzüge hätte.«
Grinsend zwinkerte er ihr zu.
Mit hochgezogenen Schultern setzte sie ihren Weg fort. Wie konnte er sowas sagen? Machte es ihm etwa Spaß sie leiden zu sehen? Oder wollte er lediglich eine Entschuldigung haben, sie berühren zu dürfen?
Keine dieser Möglichkeiten hörte sich gut an. Sie wollte bloß noch nach Hause und sich in eine warme Decke kuscheln. Dieser Prinz irritierte sie viel zu sehr, als dass sie sich weiterhin mit ihm beschäftigen wollte.
Letztlich kamen sie ohne weitere Zwischenfälle an dem Landgut an. Verwundert blickte sie sich um. Wohin waren die Soldaten verschwunden?
Einerseits beruhigte sie die Tatsache, dass sie nicht mehr ihr Zuhause umzingelten, andererseits hatte sie ein mulmiges Gefühl im Bauch. Wenn die Soldaten gegangen waren und eine gewisse Person hier gelassen haben, hieß das womöglich, dass diese Person beabsichtigte länger in ihrem Zuhause zu verweilen. Und dies gefiel ihr ganz und gar nicht.
Als sie sich auf den Weg zum Haus machen wollte, wurde sie jedoch am Arm zurückgehalten.
»Warte bitte kurz«, bat der Prinz sie.
Eine zarte Gänsehaut hatte sich auf seiner Brust ausgebreitet und, obwohl er es sich nicht ansehen ließ, konnte sie sich denken wie fürchterlich er frieren musste. Denn trotz des Kleidungsstücks, das er ihr überlassen hatte, nistete die nächtliche Kälte auch in ihren Gliedern.
Nicolas ließ sie los und rieb seinen Nacken, während seine stechenden Augen auf den Boden gerichtet waren.
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, meinte er schließlich. Seine tiefe Stimme hatte er zu einem leisen Flüstern gesenkt. »Wie lautet dein Name?«
Unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken. Stimmt, sie waren von ihrem Sturz abgelenkt worden, als er ihr diese Frage zum ersten Mal gestellt hatte.
Sie zeigte in Richtung Haus. Ihre Mutter konnte ihm antworten.
Doch Nicolas schüttelte seinen Kopf. »Nein, ich möchte ihn von dir erfahren.«
Verwirrt zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Wie hatte er sich das vorgestellt? War das ein  schlechter Versuch sie zum Reden zu bewegen?
Nachdenklich blickte sie zu Boden. Ihr Blick fiel auf ein paar Ameisen, die über einen flachen Stein marschierten. Sie trugen einzelne Grashalme auf ihren Rücken.
Lächelnd beobachtete sie sie eine Weile, als ihr plötzlich eine Idee kam. Sie hockte sich hin und riss behutsam einige Grashalme ab, darauf bedacht den fleißigen Ameisen nicht in den Weg zu kommen. Dann richtete sie die Grashalme auf dem flachen Stein an.
Grashalm für Grashalm. Bis ein Wort entstand.
Mit einem Lächeln im Gesicht sah sie zu dem Prinzen hinauf. Auch seine Lippen schmückte ein Lächeln.
Sie winkte ihn zu sich hinunter, damit er sich neben sie hinkniete und zeigte ihm ihr Werk.
Zuerst war er verwirrt. Wahrscheinlich irritierten ihn die am Stein entlanglaufenden Ameisen, doch schließlich breitete sich ein wunderschönes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Seine Augen leuchteten sie glücklich an.
»Dana«, kostete er ihren Namen aus. »Das ist ein sehr schöner Name.«
Eine zarte Röte breitete sich auf ihren Wangen aus und sie senkte ihren Blick. Dabei fiel dieser erneut auf ihr Werk und sie musste kichern. Die Ameisen begannen die Grashalme einzeln wegzutragen und nun stand da ,Ia'.
Da sie sich über die Ameisen amüsierte, bemerkte sie den eindringlichen Blick ihres Gefährten auf sich nicht. Dieser starrte sie nämlich so an, als hätte er einen Engel vor sich.
Ehrfurcht und Bewunderung waren in seinen hellblauen Augen zu sehen. Und ein weiteres Gefühl. Eines von dem er sich wünschte, dass sie es eines Tages erwidern würde.

Die stumme Prinzessin (2nd Draft)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt