Raik Tjarksson verzweifelte langsam. Seine jüngste Tochter wollte einfach nicht die Ziegenmilch trinken, die er mit einem Tuch aufgesogen hatte.
„Bitte, Merle! Nur einen Schluck!", bat er das kleine Mädchen, doch sie weinte und krümmte sich immer wieder zusammen.
Er seufzte und legte das Tuch weg. Vorsichtig strich er ihr über den Bauch, der sehr hart war. Merle schluchzte herzerweichend, dann weinte sie wieder. Raik schloss kurz die Augen. Er hatte keine Ahnung, wie er ihr helfen konnte.
So konnte es nicht weitergehen!
Er stand auf und nahm seinen Umhang.
Liv musste ihm helfen.
Mal wieder.
Er sah zu seinem Sohn, der seine Ohren zu hielt.
„Ich gehe mit Merle zu Liv, Bjarne."
Der nickte und senkte seinen Kopf.
„Mama?", fragte er leise.
Raik seufzte.
Es war lange her, dass Bjarne nach seiner Mutter gefragt hatte. Ingrud war vor beinahe zwei Monaten gestorben. Nach der Geburt bekam sie hohes Fieber. Liv hatte alles in ihrer Macht Stehende getan. Sogar Leif war gekommen, aber es war zu spät gewesen.
Wie sollte er seinem Sohn erklären, dass Ingrud nicht mehr bei ihnen war? Wie sollte er erklären, dass sie gestorben war, kaum ein paar Tage, nachdem sie Merle auf die Welt gebracht hatte?
Er streckte seine Hand aus und Bjarne ergriff sie.
„Du kannst mit, Bjarne. Vielleicht ist Lönne auch dort."
Lönne war Sjards Sohn und genauso alt wie Bjarne.
Bjarne stand wackelig auf und nahm vertrauensvoll die Hand seines Vaters.
Zwei kleine Kinder!
Wie sollte er das schaffen? Das fragte er sich immer wieder.
Er war ein Krieger, verflucht! Er musste bald wieder fortziehen. Der Jarl hatte sie schon rufen lassen. Sie würden monatelang auf See sein und es war nicht einmal gewiss, dass er wieder lebend zurückkam.
Mit einer Hand legte er Bjarne den Umhang um. Es war Frühling, doch immer noch sehr kalt. Zu kalt für den Dreijährigen und das kleine Mädchen, dass kaum zwei Monate alt war.
Er ging aus dem kleinen Langhaus, dass früher seinem Onkel Lasse gehört hatte. Doch Lasse war weg. Er hatte mit Thorge ein neues Leben aufgebaut. Sein Vetter Thorge war nun Jarl eines Gutes und Lasse war sein Krieger. Er seufzte.
Am liebsten hätte er auch ein neues Leben begonnen, doch er konnte es nicht. Er war der Erbe seines Vaters und musste seine Aufgaben übernehmen, wenn Tjark starb.
So in Gedanken lief er über das Gut. Merle weinte immer noch und krümmte sich zusammen. Irgendetwas stimmte nicht. Raik musste sich zusammen reißen, dass er nicht seine Verzweiflung heraus brüllte. Er konnte es einfach nicht sehen, wenn seine Tochter so litt.
„Willst du zu meiner Frau?"
Raik zuckte zusammen, als Stijn ihn ansprach. Er hatte ihn gar nicht bemerkt, so sehr war in Gedanken gewesen.
Sein Onkel lächelte ihn und die Kinder an.
„Oh je. Die kleine Merle scheint nicht gerade glücklich zu sein!"
Stijn nahm sie ungefragt aus Raiks Armen und legte sie mit dem Bauch auf seinen Unterarm. Sanft strich er ihr über den Rücken.
Merle jammerte noch etwas, dann rülpste sie. Stijn fing an zu lachen.
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Raiks Offenbarung -Gunnarsson-Saga Teil 5-
Historische RomaneRaik Tjarksson hält nichts von den Legenden, die um seine Familie gesponnen wurden. Er glaubt nicht daran, dass die Götter ihm eine Frau bereithalten, die ihn zu einem der Söhne Odins macht. Aus Vernunft geht er eine lieblose Ehe ein. Doch die Gött...