Kapitel 1/1

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Ich sitze im Zug und schau zu, wie Landschaften an mir vorbeiziehen. Mir gefällt das, was ich sehe, sehr gut. Viel Grün und etwas traditioneller, als in Deutschland, auch, wenn es kein großer Unterschied zu meiner Heimat ist.

Ich habe es also endlich geschafft, das Abitur mit einem Einserschnitt zu bestehen und nun meine Freiheit zu genießen. Das werde ich in Form eines Auslandjahres machen, in England, sowohl als Au-pair als auch als Gaststudent. Ich werde für ein Jahr in eine kleine Stadt namens Dormith ziehen, diese habe ich noch nie zuvor gesehen, nicht einmal Google Maps hat mir ein richtiges Ergebnis ausgespuckt. Sie soll in der Nähe von Norwich liegen.

Darauf gekommen bin ich durch eine kleine Anzeige in der Zeitung, die Uni sah sehr schön aus, nicht modern, doch hatte sie eine anziehende Wirkung auf mich. Allein studieren will ich gleich nach der Schule nicht, also werde ich nur ein paar Kurse besuchen und meine Aufgabe als Au-pair über mein Studentenleben stellen, das ist das, was ich eigentlich wollte. Eine Familie namens „Grayhead" hat direkt unter dieser Anzeige nach einem Aufpasser für zwei ihrer Kinder gesucht, im Gegenzug darf man dafür bei ihnen wohnen, ich habe mich dort sofort gemeldet und telefonisch das Angebot angenommen.

Ich fürchte mich etwas davor, dass es kein „echtes" Angebot war, denn so etwas wie einen Vertrag gibt es nicht, es gab nur ein einziges Telefonat, in dem ich auch nicht allzu genau über Aufgaben oder Ähnliches aufgeklärt wurde, das macht die ganze Sache noch so viel aufregender. Jetzt reizt es mich erst so richtig, anzukommen. Zwar hatte ich nie wirklich das Bedürfnis, von meinem Zuhause wegzukommen, auch das Verhältnis zu meinen Eltern ist sehr gut, doch will ich in meinem Leben endlich mal etwas erleben, und wo geht das besser als in einer fremden Stadt in einem fremden Land bei einer fremden Familie.

In meinen Gedanken vertieft merke ich erst jetzt, dass es draußen schon sehr dunkel geworden ist. Ich schaue mich im Zug um – es ist ein älteres, recht langsames Modell – und bemerke, dass fast keine anderen Passagiere in meinem Abteil sind. Sie müssen davor schon ausgestiegen sein, vor einer Stunde war das Abteil noch recht voll. Ich schaue zu der Anzeigetafel und merke, dass Norwich schon längst hinter mir liegt. So lange kann es also nicht mehr dauern. Meine Aufregung steigt. Ich lege meinen Kopf in meine Hände und hole tief Luft. Alles, was ich tun muss, ist ruhig bleiben, das wird schon alles, ich darf mir nicht jetzt schon so einen Kopf machen.

Als ich wieder aufschaue, sitzt plötzlich jemand neben mir. Mein Herz macht einen Satz und ich kann einen kleinen schockierten Aufschrei nicht unterdrücken. Die Person neben mir lacht auf, es ist ein Mädchen in ungefähr meinem Alter, blond und mit einer Kraft in ihren blauen Augen, dass mir mein Atem einen Moment wegbleibt.

„Hi, ich bin Kate, ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschreckt", sagt sie, immer noch lachend. Sie reicht mir die Hand. Ich ergreife sie zögernd, sammle mich und antworte: „Hey, nur ein bisschen, ich bin Scarlett."

„Schön, dich kennen zu lernen. Was hat dich hier in die Gegend verschlagen? Ich vermute mal, du bist neu, ich kenne alle hier aus dem Gebiet und dich habe ich noch nie gesehen."

„Ja, nein du hast recht. Ich fahre nach Dormith."

„Da komme ich her, was hast du vor, dort zu machen?"

„Zum einen werde ich dort als Au-pair arbeiten, zum anderen werde ich ein paar Kurse in der Uni besuchen."

Kate nickt und lächelt: „Ich fange dieses Jahr auch zu studieren an, vielleicht haben wir ja manche Kurse zusammen. Klingt ja echt cool, dass du ein Au-pair Jahr machen willst. Ich bin dafür wohl etwas zu unverantwortlich." Sie lacht und klopft mir dabei freundschaftlich auf die Schulter.

Sie kommt mir sehr sympathisch und herzlich rüber, vielleicht etwas zu aufgedreht. Ich selbst bin eher ruhiger, jedenfalls Fremden gegenüber. Ihre Augen fesseln mich, sie sind von so klarem, eisigem blau, eigentlich eine kalte Farbe, dennoch wärmt ihr Blick. Sie gibt mir das Gefühl, als ob ich schon eine Freundin gefunden hätte. Und das gibt mir Mut, immerhin habe ich schon jemanden kennen gelernt, bevor ich überhaupt angekommen bin.

Wieder schaue ich aus dem Fenster. Jetzt ist es ganz dunkel, ich kann nur mein Spiegelbild erkennen. Meine schulterlangen, braunen Haare verschwimmen darin, meine Gesichtszüge sind nicht wirklich zu erkennen.

„Wir sollten jetzt gleich da sein", meint Kate.

Sehr gut, denke ich, ich sitze schon seit Stunden in verschiedensten Zügen, langsam bin ich sehr müde und die Aufregung macht mich nur wirr im Kopf. Ich will mich gerade einfach nur in ein Bett werfen, hoffentlich zieht sich die Bekanntmachung nicht zu lange hin. Und hoffentlich ist mein neues Zuhause schön. Wieder breitet sich ein Kribbeln in meinem Bauch aus, als ich an meine Gastfamilie denke. Wie sie wohl sein werden? Und ob die zwei Kinder nett sind?

„Zu welcher Familie gehst du überhaupt? Und gehst du jetzt gleich zu ihr oder kann ich dir für ein paar Nächte Unterkunft anbieten?", fragt Kate und reißt mich damit aus meinen immer träger werdenden Gedanken. Wow, sie würde einer völlig Fremden einfach so ein paar Nächte in ihrem Haus anbieten, das verwundert mich etwas. Andererseits, so eine extrovertierte Person, wie sie es ist, kann man solche Aktionen durchaus zutrauen.

„Oh, danke für das Angebot, das ist wirklich sehr lieb, ich schlafe aber schon heute bei meiner Gastfamilie. Wohnst du allein, oder müsstest du vorher nicht erst deine Eltern fragen, ob du fremde Personen mitbringen darfst?"

Ich merke, wie der Zug immer langsamer wird, ich kann schon Lichter und einen kleinen Bahnhof erkennen.

„Nein, das geht schon klar, meine Eltern sind da sehr entspannt. Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, wer deine Gastfamilie ist, wie heißt sie denn? "

„Oh tut mir leid, ich bin schon müde", sage ich, während der Zug in den Bahnhof, wenn man den einen Bahnsteig so nennen möchte, einfährt und zum stehen kommt. Ich packe meine zwei Koffer mit meinem ganzen Hab und Gut und stehe auf, Kate ebenso. Wir steigen aus dem Zug aus, als ich den Bahnsteig erreiche, schlägt mir kalte, frische Nachtluft ins Gesicht und ich verspüre so etwas wie Euphorie.

„Sie heißen Grayhead, kennst du sie"

Auf einmal schwankt die Stimmung komplett. Kates Lächeln verschwindet von einer Sekunde auf die andere, sie erstarrt, die Augen strahlen keinerlei Wärme mehr aus. Die Nachtluft ist jetzt nur noch kalt, die Euphorie verschwindet ebenso schnell, wie sie kam.

„Ja, den Namen habe ich schon gehört. Also, man sieht sich... hoffentlich." Mit diesen Worten verschwindet Kate in der Dunkelheit. Ok, das war wirklich seltsam, wir haben uns doch gut verstanden, habe ich etwas Falsches gesagt?

Ich schaue mich auf dem Bahnsteig um, er ist nur schwach beleuchtet. Bei dem Telefonat meinte der Mann, mit dem ich sprach, er würde mich hier abholen, abgesehen von mir ist aber keiner mehr da, selbst der Zug ist schon weitergefahren. Ich stelle meine Koffer neben einem Plan der Ab- und Ankunftszeiten der Züge ab. Denkt er vielleicht, ich würde später kommen? Ich schaue mir den Plan an, um zu sehen, wann der nächste Zug einfahren würde, tatsächlich fahren aber nur zwei Züge am Tag überhaupt hier vorbei. Der nächste fährt morgen Vormittag aus.

In mir steigt Verzweiflung auf, soweit ich in der Dunkelheit erkennen kann, ist hier nur Wald, Schilder zum Orientieren habe ich auch noch nicht gesehen, ein planloser Start in den Wald würde also eher nach Hinten losgehen und Wege kann ich bei der Dunkelheit nicht erkennen. Nicht die Hoffnung verlieren, denke ich mir, ich wurde sicher nicht vergessen, ich muss hier nur warten, irgendwann werde ich schon abgeholt.

Ich setzte mich auf die einzige Bank, die es hier gibt, und ziehe meinen Mantel fester um mich. Es ist wirklich sehr kalt auf Dauer, dabei ist es doch erst September, meine Güte. Aus dem Wald entnehme ich ein Geräusch, entsetzt stelle ich fest, dass es ein Wolf ist. Also gibt es hier wohl Wölfe, auch gut zu wissen, dass sie hier anscheinend nicht alle eingepfercht haben. Dennoch, es ist ein Grund mehr, nicht allein in den Wald zu gehen. Wieder ertönt ein Heulen, diesmal näher. Mir läuft eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Ich rede mir ein, dass ich keine Angst zu haben brauche, ein einzelner Wolf wird mir doch sicherlich nichts tun, er hat sicherlich nicht vor, Richtung Gleis zu kommen.

Ein weiteres Heulen, noch näher. Doch ist es wirklich ein Wolf? Es klingt jetzt so anders. Eigentlich klingt es nicht anders als davor, doch liegt jetzt etwas in dem Heulen, was mir noch viel mehr Angst macht. Ich kann nicht beschreiben, was es ist.

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