The Wall

Prolog

Gedankenverloren starre ich auf die bunte Wand vor mir.
Manche Muster darauf stechen grell hervor, andere scheinen vernachlässigt zu sein und verblassen schon wieder.
In manchen Umrissen lässt sich Kreativität und Leidenschaft erkennen, andere sind einfach nur lieblos hingeschmiert und verunstaltend.

Meine Augen wandern über die farbigen Linien.

Manche sind schön und präzise.
Andere sind verwackelt und unterbrochen.
Es ist schier unmöglich eine Fläche in der Größe einer Hand zu finden, die noch unbemalt ist.
Und trotzdem ziehen diese kleinen Flecken, an denen die raue Betonwand hindurch scheint, meinen Blick wie magnetisch an.
Warum sind diese Flächen bloß frei geblieben?
Waren die Motive etwa nicht groß genug?
Sind sie zu verwinkelt, um sie sanft ineinander übergehen zu lassen?
Waren sie nicht aufeinander abgestimmt?
Zu einzigartig?
Oder wollte einfach niemand diese Lücken füllen?

Ein Wimpernaufschlag.

Dann strecke ich meine Hand aus.
Ganz langsam, sodass sie anfängt zu zittern und zu zucken und ich mich konzentrieren muss, bis meine Fingerspitzen vorsichtig den Beton berühren.
Die Wand ist warm, steht in starkem Kontrast zu dem eiskalten Wind, der mich umweht und ich ziehe meine Jacke ein Stück enger um mich.
Mein Blick ist auf meine Finger gerichtet, die vorsichtig über die kleine Lücke fahren.

So rau und unpassend.

Sind es nicht genau diese Lücken, die fehlen, um etwas perfekt zu machen?
Vorsichtig ziehe ich meine Hand zurück und krame in der kleinen Tasche meiner Jacke.

Gefunden.

Ich ziehe den Deckel ab und führe den roten Stift in Richtung der leeren Fläche.
Konzentriert beiße ich mir auf die Unterlippe und trete schließlich wieder einen Schritt zurück, um mein Werk zu betrachten.

Die Lücke ist fort.
Das Gesamtbild ein Stück perfekter.
Bei dem Wort spüre ich ein leichtes Stechen in der Brust.
Perfekt.
Ich war eines dieser großen, bunten Motive.

Und jetzt?

Jetzt würde ich alles dafür geben, eine dieser kleinen Lücken sein zu dürfen...