73. Kapitel: Glöckchen im Aufzug

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Der November war zum Glück recht unspektakulär und ereignislos verlaufen. Erik hatte immer weniger Termine im Tonstudio und er nutzte die Zeit, um zuhause an seinen Entwürfen für das Andersen-Projekt zu feilen. Einige hatte er bereits an Troels, den Regisseur, geschickt, der sich ganz zufrieden zeigte.

„Aber mach dir keinen Stress", hatte er hinzugefügt. „Im Moment sieht es aus, als könnten wir den Zeitrahmen ohnehin nicht einhalten. Externe Faktoren, du kennst das ja ... Aber habe ich dir schon erzählt, dass wir für Das Hotel zu den zwei Welten gute Chancen auf einen internationalen Hörspielpreis haben? Die Norweger wollen uns das Konzept abkaufen, samt deiner Musik natürlich. Sie wollen das Ganze auf norwegisch einspielen. Wenn der Deal klappt, dann bekommst du wieder Tantiemen ..."

Das mit den Tantiemen klang gut. Da im Moment unklar war, wann er wieder voll arbeiten konnte, waren ihm ein paar zusätzliche Einnahmen natürlich willkommen. Da war ihm auch der Vorschuss für das Andersen-Projekt sehr recht gewesen. Aber Troels war begeisterungsfähig und er hatte diese Angewohnheit über ungelegte Eier zu gackern. Erik wusste gut, dass es besser war, sich erst zu freuen, wenn die Sache unter Dach und Fach war.

Erik hatte mittlerweile seine täglichen Rituale entwickelt, die ihn einigermaßen davon abhielten zu sehr ins Grübeln zu verfallen. Fast täglich redete er mit Jitka, meist zu unterschiedlichsten Tageszeiten, da sie viele Termine hatte und bei ihr nun wieder einige Reisen anstanden. Sylvie kam fast jeden Abend nach der Arbeit bei ihm vorbei. Oft brachte sie Abendessen mit, oder sie kochten sich etwas und aßen dann zusammen.

Sie erzählte ihm dann den neuesten Tratsch aus der Redaktion, beziehungsweise regte sie sich darüber auf, was man ihr diesmal wieder zumutete. Einmal erzählte sie schimpfend, sie solle für irgendeine Adventbeilage Lichterketten und Duftkerzen testen. Sylvie konnte mit Hygge wenig anfangen, dieser Gepflogenheit der sich die Leute hier im Norden vor allem dann zu widmen begann, wenn es draußen kalt und dunkel wurde. Dann zog man sich in die eigenen vier Wände zurück, richtete sich mit selbstgebackenen Keksen, Tee, Kerzen und dergleichen möglichst gemütlich also hyggelig ein und versuchte so den Winter zu überleben.

Sylvie war natürlich die personifizierte Schneekönigin, so hatte zumindest Jitka sie einmal genannt, und eine erklärte Hyggefeindin. Zudem fand sie es absolut unter ihrer Würde Duftkerzen zu testen. Da mühte sie sich jahrelang ab, vertrackte politische Verstrickungen aufzudröseln und als Dank wurde sie in die Hyggeabteilung, wie sie ihr Resort mittlerweile nannte, abgestellt, um über Dekokram zu schreiben. Und der Mensch, dem sie gerne genauer auf die Finger geschaut hätte, schickte ihr Blumen zum Konzert. Es war schon verrückt.

Er genoss diese ruhigen gemeinsamen Abende mit Sylvie sehr, auch wenn ihm bewusst war, dass sie auch deswegen ständig zu ihm kam, um sich zu vergewissern, dass bei ihm noch alles in Ordnung war, so weit es das eben sein konnte. Er ertappte sich auch ständig dabei, wie er sich selbst kontrollierte, belauerte und wartete und sich fragte, ob es denn nicht verdächtig war, dass es ihm immer noch verhältnismäßig gut ging. Wie lange würde das noch so gehen? Natürlich wurde er schneller müde, es gab Tage, an denen er sich schlapp und schwindlig fühlte, an denen ihn alles anstrengte, und er sich zu nichts aufraffen konnte. Aber die Tage, an denen er sich einigermaßen gut fühlte, waren noch immer in der Überzahl.

Er ging nach wie vor jeden Tag seine Runde um die drei Seen. Vor noch nicht allzu langer Zeit war das seine regelmäßige Laufrunde gewesen. Meistens hatte er die über sechs Kilometer lange Seenrunde durch einen der in der Nähe liegenden Parks verlängert. Jetzt war er froh über den Spaziergang, auch wenn er den dritten See jetzt schon manchmal wegließ. Wer sagte schon, dass es ihm während der verbleibenden Wochen wirklich so viel schlechter gehen würde. Sein Arzt hatte gemeint, er solle sich auf eine mühsamere Zeit gefasst machen. Was immer das hieß. Es musste nicht heißen, dass es bei ihm unbedingt so kommen musste, vielleicht wurde es ja gar nicht so schlimm. Und was ein Einzelner als mühsam empfand, war ohnehin unterschiedlich. Er konnte nicht ignorieren, dass er krank war, sein Körper erinnerte ihn ständig daran, aber wenn er mit seinen Kräften sorgsam umging, war alles vielleicht wirklich nur Einteilungssache.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt