*Kapitel 78 (213) An der Klippe (stehen)

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Donnerstagnachmittag, 12.1.
In der Stadt
Medizinische Universität
Hörsaal 1.03


An der Klippe (stehen) 

Der Morgen war wunderschön gewesen. Theodor hatte ihn zärtlich geweckt, ihm Frühstück ans Bett gebracht, ihm während ihrer morgendlichen Dusche Schultern und Nacken massiert und ihm dann sogar noch ein Lunch-Paket in die Hand gedrückt, damit er keinen Hunger haben musste.

Greg grinste. Ein wenig kam er sich vor wie ein Kind, wenn Theo ihn so 'bemutterte', doch er genoss dessen Aufmerksamkeit in vollen Zügen und Theodor schien es im Gegenzug auch etwas zu geben. Er schien es irgendwie zu brauchen und so lange das so war würde Greg ihn nicht daran hindern.

Professor 'ich bin mit deinem Vater befreundet' stand vor den ewig langen Holzreihen und dozierte – hinter einem Pult mit Mikrofon stehend - vor sich hin.

Rings herum schrieben alle fleißig mit, während Greg sich ein wenig langweilte. Psychische Krankheiten waren nicht sein Ding. Er stand mehr auf Eingeweide und Blut. Darauf zu sezieren, oder sich an echten – natürlich toten – Menschen zu versuchen.

Er spielte mit dem Gedanken sein Lunch-Paket herauszuholen und mal hinein zu stöbern...

Doch Essen war in den Hörsälen verboten. Als einzige Ausnahme diente ihnen Studentenfutter. Weswegen er sich sein Essen vermutlich auch nicht ansehen durfte, als wäre es ganz offensichtlich spannender als...

Greg sah auf. Er wusste nicht einmal welches Thema sein Dozent gerade vortrug.

Beinahe schon zärtlich strich er über die Brot-Box in seinem Schoß, in der sich vermutlich die allerbesten Schätze befanden. Liebevoll hergerichtet von seinem Schatz.

Kurz spähte er nach rechts. Seine Sitznachbarin hatte die feinsäuberlichsten Aufzeichnungen die er je gesehen hatte. Außerdem immer eine bunte Überschrift, die er mit etwas Mühe – wegen ihrer kunstvoll geschwungen Handschrift – entziffern konnte.

'De-press-ion', las er langsam und im Stillen für sich.

'Despression', sagte er sich dann noch einmal, nickte leicht und sah nach vorne. Langweilig.

Psychische Krankheiten langweilten ihn. Die waren nicht erkennbar, nicht auf Röntgenbildern zu sehen, nicht operabel. Er hatte keine Chance jemanden deswegen aufzuschneiden. Dabei wollte er sowieso Pathologe werden. Außerdem war die Prozentzahl von psychisch erkrankten Menschen in einer Pathologie geringer als körperlich Geschädigte oder Unfallopfer.

Abgesehen die Suizide, die waren in den meisten Fällen psychisch bedingt gewesen. Aber die schnitt er selten auf. Weil es meist nichts Spannendes in den Eingeweiden solcher Menschen zu finden gab.

Dass es ihn nicht so reizte etwas über die Psyche zu erfahren lag vielleicht daran, dass sein Vater so viel Wert darauf legte, oder aber es war, weil er ahnte was er erkennen musste. Was er schon lange gekonnt verdrängte, weil er es nicht wahrhaben wollte, was sein HIV-Arzt ihm schon öfters nahegelegt hatte, was passieren konnte bei Patienten wie ihm...

Gregor sah den befreundeten Dozenten seines Vaters wieder an und atmete leise.

Die Worte des Mannes schienen keinen Sinn für ihn zu ergeben, sie gingen im linken Ohr rein, grüßten sein Hirn und marschierten beim rechten wieder raus und landeten auf dem wunderschönen Papier seiner eher unauffälligen Nachbarin. Warum sie jedes Mal neben ihm saß verstand er absolut nicht. Sie war das genaue Gegenteil von ihm. Nicht nur vom Aussehen und von der Ausstrahlung. Sie wollte Psychiaterin werden.

Russisches Ballett [BoyxBoy] Band IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt