Kapitel 1

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Die braungefiederte Eule im Baum legte den Kopf schief und musterte mich. Ich starrte mit mindestens genauso großen Augen zurück. Waren Eulen nicht eigentlich nachtaktiv?

„Ylvie!", hörte ich meine kleine Schwester rufen.

Ich wandte mich nur kurz nach ihr um, dann war die Eule auch schon verschwunden. Einen Moment starrte ich noch auf den leeren Ast, dann kletterte ich über die Felsen zu Mara hinüber.

„Sieh mal, ein Schmetterling!"

Tatsächlich krabbelte auf ihrer Hand ein prächtiges Tagpfauenauge. Gebannt beobachteten wir das Insekt einige Sekunden lang. Dann flatterte es erst leicht mit den Flügeln, bevor es sich endgültig in die Lüfte erhob.

Mara zog eine Schnute. „Das nächste Mal fange ich ihn ein und nehme ihn mit."

„Ganz sicher nicht!", widersprach ich. „Die Tiere und Insekten hier wollen nur in Ruhe leben, Mara. Du würdest doch auch nicht wollen, dass dich jemand mitnimmt und für den Rest deines Lebens in ein großes Einmachglas steckt, oder?"

Mit geweiteten Augen starrte sie mich an und sah dann zurück zu dem Tagpfauenauge, das sich auf einer Blüte in der Nähe niedergelassen hatte. „Nein", gab sie dann kleinlaut zu.

„Na, siehst du." Ich nahm mein Handy aus der Hosentasche und schoss ein Foto von dem Schmetterling, bevor ich es Mara zeigte. „So kannst du ihn auch immer bewundern, ohne dass du ihm etwas tun musst."

Sie kicherte. „Deine Kamera ist schlecht. Das Bild ist total verschwommen." Sie griff nach ihrem eigenen Handy und schoss selbst ein Foto. Triumphierend hielt sie mir das Bild unter die Nase.

Ich seufzte. „Wie machst du das nur immer? Meine Fotos werden nie so schön."

„Du bist eben schlecht!", lachte sie und hüpfte durch das Geäst, um noch mehr Fotos zu schießen.

„Lauf nicht zu weit weg!"

„Jaha!", rief sie zurück und verschwand zwischen den Bäumen.

Erschöpft ließ ich mich an den Rand des kleinen Baches fallen, zog Schuhe und Strümpfe aus und steckte meine Füße in das kalte Wasser. Um mich herum zwitscherten die Vögel, die Sonne schien mir warm ins Gesicht und das Gras unter mir war so unglaublich weich, dass ich meine Finger hineingrub. Ich schloss die Augen. Nirgendwo konnte es schöner sein, als hier, auf diesem Fleckchen Wiese, mitten im Wald.

Ein leises Plätschern riss mich aus meiner Träumerei. Als ich die Augen wieder öffnete, zuckte ich vor Schreck zusammen. Mir gegenüber, am anderen Ufer des schmalen Baches, stand ein ausgewachsener Wolf.

Ein Schrei suchte sich den Weg über meine Lippen, doch eine warme Hand legte sich über meinen Mund, bevor er entweichen konnte.

„Nicht. Bleib ruhig sitzen. Sie wird dir nichts tun", raunte eine tiefe Stimme in mein Ohr.

Ich drehte den Kopf und schwarzes Haar kitzelte mein Gesicht. Die Hand verschwand von meinem Mund und der junge Mann drehte sich zu mir um. Hellgrüne Augen, umrahmt von kinnlangem schwarzem Haar in einem kantigen Gesicht. Benommen starrte ich ihn an, bis eine Berührung an meinem Knie mich zusammenzucken ließ.

Die Wölfin war nähergekommen und schnupperte an meinem Bein. Ich verspannte mich augenblicklich, doch schon lag der Arm des Mannes um meine Mitte.

„Sie ist harmlos, vertrau mir." Er streckte seine freie Hand aus und fuhr der Wölfin sanft über den Kopf. Sofort schmiegte sie sich gegen seine Handfläche. „Siehst du?"

Waldgeister ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt