Kapitel 1

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Es regnete, als ich an Gleis 3 am Oldenburger Hauptbahnhof mit zwei riesigen Koffern den ICE nach Köln betrat. Na das Wetter würde ich die nächsten Monate wohl nicht vermissen... Schnell hatte ich das Gepäck verstaut und mich auf meinen reservierten Sitzplatz begeben, da nahm der Zug schon Fahrt auf. Ein älterer Herr mit Schirm und Schiebermütze setzte sich neben mich. Ich sah auf die Reservierungsanzeige: Schon in Osnabrück würde er mich verlassen, danach war keine Reservierung mehr vorgenommen worden. Das war gut, legte ich doch zu gerne auf längeren Fahrten meine Beine hoch.

Der Mann hatte sich aber immerhin als ruhiger, angenehmer Sitznachbar erwiesen. Dennoch wertschätzte ich den in Osnabrück gewonnenen Freiraum. Etwa eine Stunde später, ich las in meiner Fachzeitschrift für Notfallmedizin gerade einen interessanten Artikel über die Verbesserung diagnostischer Maßnahmen in der Präklinik, als ich von meiner Blase darauf hingewiesen wurde, dass der letzte Becher Kaffee wohl einer zu viel war. Seufzend machte ich mich auf den Weg zur nächsten Toilettenkabine. Wie ich diese Exemplare im Zug hasste! Erstens: Der Dreck und die Enge. Und dann die eigenen Sachen unbeaufsichtigt im Abteil liegen lassen...

Die Kabine war natürlich besetzt. Von drinnen waren Würgegeräusche zu hören. Na großartig, als wären Zugtoiletten nicht schon dreckig und übelriechend genug! Bestimmt hatte irgendein dummes Kind wieder zu viele Süßigkeiten gegessen oder sowas. Fünf Minuten später, ich war bereits kurz davor, eine alternative Toilette im nächsten Abteil aufzusuchen, ging endlich die Spülung und wenig später kam eine hübsche brünette junge Frau heraus. Oh, doch kein Kind. Sie sah sehr blass aus und schwankte etwas beim Verlassen der Kabine. Ich stabilisierte sie kurzentschlossen am Arm. Sie sah mich dankbar an und wollte mir den Arm entziehen, doch ließ ich sie nicht. Bei mir kam mal wieder das Notarztgen, das wir (passionierten) Mediziner immer gern unterdrücken wollten, doch meist nicht konnten, zum Vorschein.

"Alles ok bei Ihnen?", fragte ich sie daher und schaute ihr forschend ins Gesicht. "Ja, alles gut", meinte sie schwach. "Würden Sie mich jetzt bitte loslassen? Ich muss zurück zu meinen Sachen. Die alte Dame, die für mich darauf aufpasst, muss an der nächsten Station aussteigen." Vorsichtig ließ ich ihren Arm nun los, packte jedoch sofort wieder zu, als ich sie zur Seite kippen sah. "Nichts für ungut, junge Dame, aber gut sieht anders aus. Sie können ja kaum mehr stehen. Außerdem habe ich gehört, dass Sie sich da drin übergeben haben. Also was ist los?"

Sie antwortete: "Ach, ich war über das Wochenende Freunde besuchen und wir waren gestern etwas feiern und irgendwie habe ich nen leichten Kater und beim Zugfahren wird mir meistens eh etwas flau. Ich schätze, die Kombi hat mich etwas ausgeknockt. Ich werde mich einfach auf meinen Platz setzen und noch versuchen ein bisschen was runterzukriegen und dann wird das schon... Aber danke fürs Auffangen! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag." Nee nee, so leicht würde mir die jetzt nicht entkommen. "Na gut, dann begleite ich Sie aber wenigstens noch zu Ihrem Sitz, wenn Ihnen das Recht ist. Nicht, dass Sie auf dem Weg dahin wieder ins Wanken kommen. Bis wohin müssen Sie denn?" "Köln", meinte sie und versuchte mich davon abzubringen, mich noch länger um sie zu sorgen. Ich ließ mich davon jedoch nicht beeinflussen.

An ihrem Sitzplatz angekommen, sie saß nur wenige Reihen vor mir, parkte ich sie dann und trichterte ihr noch ein: "Und wenn was ist, einfach rufen, ich sitze nur ein paar Reihen weg." Sie winkte ab: "Ach was, Sie haben schon genug getan. Jetzt geht es bestimmt gleich wieder. Aber danke." Ich zog also wieder ab und ging diesmal wirklich zur Toilette. Erleichtert ließ ich mich dann auf meinen Platz fallen. Ein bisschen sorgte ich mich noch immer um die Frau, so sehr hatte sie mir jetzt wirklich nicht gefallen.

Zwei Stunden später hielt der Zug in Köln. Endhaltestelle. Ich wuchtete meine beiden großen Koffer gerade aus dem Zug, als mir die Frau von vorhin, die im Begriff war, aus dem Zug zu steigen, auffiel. Sie war noch immer kreidebleich. Sie machte einen Schritt auf den Bahnsteig. Dann sackte sie bewusstlos zusammen. Ich ließ meine Koffer Koffer sein und konnte sie gerade noch so auffangen. Ich legte sie auf den Bahnsteig und versuchte sie zu erwecken. Nichts, weder auf Ansprache, noch auf Schmerzreiz erweckbar. Tief bewusstlos, der Puls raste jedoch. Ich entschied mich dann, die Rettung anzurufen. Wer weiß, vielleicht würde ich ja schon auf zukünftige Kollegen treffen.

Die RTW-Besatzung traf erschreckend schnell ein. Ein kleiner, mittelalter, italienisch aussehender und ein junger, dunkelhaariger Mann mit Brille kamen auf mich zu. Der ältere warf nur einen Blick auf die Bewusstlose, dann rief er aus: "Oh scheiße, Flo, das ist Jacky!" Der Angesprochene wirkte nun auch merkwürdig alarmiert? Eine Kollegin? Oder nur eine gemeinsame Freundin? Ich ließ mich bereitwillig in den Hintergrund drängen und kümmerte mich stattdessen darum, dass meine Monsterkoffer mal irgendwie an die Seite aus dem Weg kamen. Auch den Rucksack der jungen Frau legte ich in Richtung meiner Gepäckstücke. Dann ließ ich mich auf einem davon nieder und beobachtete das Schaffen der Sanitäter. Sie wirkten sehr kompetent in dem, was sie taten. Die junge Frau, Jacky scheinbar, war noch immer nicht bei Bewusstsein. Das war jetzt nicht so gut. Ich merkte, dass auch die Männer langsam angespannter wurden. Ich hörte sie einen Notarzt anfordern. Ein solcher war ich zwar, jedoch war ich außer Dienst, vor allem da ich meinen Dienst erst übermorgen antreten sollte, nur begrenzt hilfreich und hätte ohnehin nur das tun können, was die Männer eh schon taten - sonst hätte ich ja schon lange etwas unternommen.

Dennoch ging ich jetzt auf die beiden zu: "Hey, also falls ich helfen kann, bis der Notarzt eintrifft, sagen Sie ruhig, was, ich bin eigentlich auch vom Fach." Franco nickte dankbar: "Zuvor hätte ich nein gesagt, aber jetzt könnten Sie tatsächlich einmal kurz für meinen Kollegen übernehmen. Dann kann er die Trage holen und wir das hier in den RTW verlagern." Um uns herum hatte sich mittlerweile eine große Menge an Gaffern gebildet... Ich übernahm dann vom Kollegen, Flo, die Infusion. Die Patientin war mittlerweile komplett verkabelt worden. Ich sah auf dem EKG, dass die Herzfrequenz noch immer viel zu hoch war. Das Herz sah sonst, soweit ich das erkennen konnte, aber in Ordnung aus. Der vermeintliche Italiener bat mich, noch einmal einen Druck zu machen. Ich betätigte den entsprechenden Knopf. Nicht berauschend.

Kurz später sah ich den anderen Sanitäter die Trage näher schieben. Hinter ihm waren der Notarzt, ein mittelalter, etwas rundlicherer Mann mit leicht gedünntem, angegrautem Haar, und eine weitere Sanitäterin, klein, dünn und mit rotem Haar, zu sehen. "Also Franco, was ist der Stand?", fragte der Notarzt dann auch gleich den Mann neben mir. Franco also, mit meiner Vermutung dass er italienische Wurzeln hatte lag ich vermutlich also richtig. "Marion, übernimmst du mal die Infusion bitte", war sein nächster Satz. Ich zog mich wieder zu meinen Koffern zurück. Die Patientin wurde auf die Trage gelegt, angeschnallt und kurz später von den Sanitätern namens Marion und Flo Richtung RTW geschoben. Franco fing an, das restliche Equipment zusammenzusammeln. Der Notarzt kam auf mich zu: "Hey, Oliver Dreier mein Name, der diensthabende Notarzt. Können Sie mir bitte nochmal erzählen, wie es dazu kam? Ich werde irgendwie noch nicht so ganz schlau aus der Sache." Nee, das konnte ich gut verstehen. Ich auch nicht... Ich erklärte ihm also, was im Zug passiert war. Er hörte sich das zuende an, hatte aber offensichtlich auch keine neuen Erkenntnisse gewonnen. Also eilte er Richtung RTW.

Ich setzte dazu an meine Koffer zu stemmen, da fiel mir wieder der Rucksack der jungen Frau in den Blick. Mist, den sollte ich den Rettungskräften wohl noch mitgeben. Spontan entschied ich, zuvor jedoch noch einmal hineinzusehen. Vielleicht brachte er ja die Lösung. So war es dann tatsächlich auch. Schon in der Vordertasche fand ich ein kleines Blister Tabletten, in dem 5 fehlten. Ich checkte den Namen des Präparats und machte mich sofort mit meinen beiden Koffern auf den Weg zum RTW. Dort angekommen, klopfte ich an die Seitentür. Irgendwie komisch, die Routine eines Rettungseinsatzes mal von der Zuschauerbank aus beobachten zu müssen. Es war der Notarzt, der mir fragend entgegen blickte. Ich hielt den Rucksack hoch: "Hier, habe ich ganz vergessen, der gehört Ihrer Patientin. Ich habe übrigens etwas darin gefunden, was ihren Zustand eventuell erklären könnte", sagte ich und hielt die Tabletten hoch, "ich weiß nicht wie viele sie davon genommen hat, hier fehlen 5 Stück, aber kombiniert mit dem Restalkohol, den sie intus hat, könnten auch harmlose Reisetabletten unabsehbare Wechselwirkungen auslösen, oder!?" Der Notarzt, Oliver, stöhnte entnervt auf: "Sie haben Recht, das könnte tatsächlich der Grund sein... Mann, die Frau ist Rettungssanitäterin, die müsste doch wissen, was sich verträgt und was nicht, oder!?"

Also hatte ich Recht gehabt, die Frau war eine Kollegin. Ich wollte mich schon wegdrehen und gehen, da rief mir Oliver aus dem RTW noch hinterher: "Danke für Ihre Hilfe. Und den Rucksack natürlich. Ich habe übrigens von Franco gehört, Sie sind vom Fach? Was machen Sie wenn ich fragen darf?" "Notarzt hauptsächlich, aber auch Dienst in der Notaufnahme", meinte ich, dann weiter: "Aber keine Sorge, Sie kennen mich nicht, ich ziehe grad hierher und fange erst in zwei Tagen an." "Ach, dann sind Sie der neue Kollege, Lucian Vollmer, richtig!?", erwiderte der Notarzt mit einem schiefen Grinsen. Ich nickte zustimmend und machte mich nun endlich auf den Weg zu meinem neuen Zuhause in Köln.

ASDS - Et hätt noch immer jot jejange - Neuer Job in KölnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt