Kapitel 3

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Die nächsten Tage hörte ich wieder nichts von Silvan. Immer, wenn ich die Waldgrenze überschritt, kam zwar die Wölfin oder der Schimmel zu mir, aber Silvan tauchte nicht auf.

Dann, in der Nacht der Sommersonnenwende, kurz nachdem die Lichter im Haus ausgingen, hörte ich das leise Wolfsgeheul vor meinem Fenster. In Windeseile trug ich meine Kleider und stürmte nach draußen, wo ich wie angewurzelt stehen blieb. Diesmal stand nicht die Wölfin vor mir, sondern ein anderer, um einiges größerer Wolf. Langsam trottete er auf mich zu, bis er mit mir auf Augenhöhe war. Ja, so groß war er, dass er mir locker in die Augen sehen konnte. Aber diese Augen waren so waldgrün, dass mir ein überraschtes Lachen entwich.

„Hallo, Silvan."

Ich hob die Hand und strich dem Wolf über die Stirn. Er legte sich ruhig auf den Boden und sah mich erwartungsvoll an. Ohne zu zögern kletterte ich auf seinen Rücken und vergrub meine Hände in seinem dichten Fell. Er warf einen kurzen Blick zu mir zurück, wie um zu fragen, ob ich bereit war.

Ich nickte aufgeregt und schon hob er sich wieder auf die Beine. Im nächsten Moment rannte er los. Meine Haare flatterten im Wind, obwohl ich sie in weiser Voraussicht zusammengebunden hatte.

Hatte da gerade jemand meinen Namen gerufen? Überrascht sah ich zurück zum Bauernhaus. Tatsächlich stand Mara im Licht der Haustür und sah mir mit großen Augen hinterher.

„Sie hat uns gesehen!", schrie ich Silvan ins Ohr. „Ist das ein Problem?"

Er schüttelte im Laufen seinen flauschigen Kopf und dann waren wir auch schon im Wald verschwunden. Die Wölfin tauchte neben uns auf und zu dritt jagten wir durch den dunklen Wald, immer weiter den Berg hinauf, bis zu einer Anhöhe hoch über dem Wald. Kaum war ich abgestiegen, stand statt des Wolfes Silvan vor mir und grinste mich breit an. Lachend warf ich mich in seine Arme und ließ mich ein paar Mal von ihm im Kreis wirbeln.

„Ich wusste nicht, dass du dich in Tiere verwandeln kannst!"

Er lachte und strich sacht über meine Wange. „Ich kann mich in alles Mögliche verwandeln."

„Könntest du mich theoretisch auch verwandeln?"

Silvans Augenbrauen hoben sich. „Ja", erklärte er dann schlicht. „Aber nicht heute Nacht. Es sind zu viele Menschen im Wald."

„Wieso das?"

„Um Mitternacht beginnt der Tag der Sommersonnenwende." Er nickte hinter mich und ich drehte mich um. Überall im Wald waren kleine Lichtflecken zu sehen. „Die Menschen zünden Feuer an und feiern die ganze Nacht."

„Und was machen wir?"

„Wir genießen die Aussicht und hoffen, dass niemand einen Waldbrand verursacht."

Und so saßen wir hoch oben über den Feuern. Unsere Beine baumelten nebeneinander über dem Abgrund. Er erzählte mir Geschichten aus dem Wald. Von dem Hirsch, der seine Herde eines Winters ausgeführt hatte, um allen Schneemännern im Dorf die Nasen abzuknabbern. Von dem verrückten Eichhörnchen, das seine gesammelten Nüsse in den Fluss geworfen hatte, statt sie zu vergraben und wie er alle Nüsse einzeln eingesammelt und ihm vor seine Baumhöhle gelegt hatte, damit es nicht verhungern musste.

Wir saßen schon eine ganze Weile auf der Anhöhe und vertrieben die Zeit mit Reden und Lachen, als Silvan sich plötzlich aufrichtete und den Blick kritisch über den Wald unter uns streifen ließ.

„Was ist los?", fragte ich alarmiert. „Ein Waldbrand?"

Er schüttelte den Kopf und stand auf. „Ein Kind ist tief im Wald. Allein."

Von einem Moment auf den nächsten stand der große Wolf wieder vor mir. Eilig sprang ich auf und krallte mich in sein Fell, als er auch schon mit einem großen Satz von der Anhöhe in die Tiefe sprang. Einige Sekunden lang stürzten wir in die Tiefe und landeten dann beinahe schon sanft auf dem Waldboden. Wie der Wind schoss Silvan mit mir durch die Dunkelheit, machte einen großen Bogen um die Feuer und verlangsamte schließlich am Rande einer Lichtung das Tempo.

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