Blaue Augen

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Die Türen des Busses gingen auf und sie stieg heraus. Ihre Füße fanden Halt auf dem steinigen Asphalt. Ihre Laune veränderte sich schlagartig. Sie hatte sich eigentlich darauf vorbereitet. Jahre lang hatte sie daran gedacht wie es wäre, wenn sie hier wäre. Was es in ihr auslösen würde, den Ort des Schreckens zu besuchen. Den Ort, durch den sie ihn verloren hatte. Sie dachte, es würde ihr helfen. Helfen den Verlust zu verarbeiten. Helfen das Gefühlschaos in ihr zu ordnen. Doch jetzt, wo sie vor diesem Tor stand, fühlte sie sich verloren. Überfordert. Gefühle und Gedanken prasselten auf sie ein. Sie stellte sich vor, wie Menschen hier hineingedrängt wurden; wie er unter Ihnen war. Sie konnte die Angst förmlich greifen, die sie umgab. Sie hatte seine Augen vor sich. Seine wunderschönen eisblauen Augen, gefüllt mit Angst und Ungewissheit, vor dem was passieren würde. Er war doch noch so jung gewesen. Aber da war noch etwas. Der Tod. Er lag in der Luft, wie ein Nebelschleier, der den ganzen Ort in Trübsal versinken ließ. Nebel, der den Ort von der Außenwelt abschottete. Sie bildete sich ein, seine Schreie zu hören. Ihn zu sehen. Zu spüren. Es waren aber nur Momentaufnahmen. Ihre alte, zerbrechliche Hand griff zu dem eisigen Tor und öffnete es. Mit einem hasserfüllten Blick schaute sie zur Schrift, die in dem Tor eingearbeitet war. “JEDEM DAS SEINE“. Wie ironisch, wenn man bedachte, an welchem Ort sie sich befand. Einem Ort, an dem Menschen dafür bestraft wurden, wenn sie nicht in das Bild passten. Wenn sie eine andere Religion, Sexualität oder politische Meinung hatten. Es verhöhnte sie. Es war unmenschlich und unheimlich. Sie wendete ihren Blick von der Schrift ab und ging schweren Herzens ein paar Schritte hinein. Als das Tor hinter ihr zufiel zuckte sie zusammen. Nun fühlte sie sich eingesperrt; hatte das Bedürfnis zu flüchten. Sich einfach umzudrehen und weg zu laufen. Aber sie konnte nicht. Sie war es ihm schuldig. Sie war es sich selbst schuldig. Sie hatte die Hoffnung, es hier durch endlich abschließen zu können. Sie betrachtete den großen Platz, der nun vor ihr lag. Wieder drängten sich ihr Bilder in den Kopf. Bilder, wie sie dort in Reihen standen. Wie sie geschlagen und gequält wurden. Die ganzen hoffnungslosen Blicke. Sie konnte es nicht verhindern ihn zu sehen. Seine leeren Augen, die sonst immer gestrahlt haben und nun trüb sind. Seinen abgemagerten Körper in dem grässlichen blau-weißen Anzug. Sein schönes Gesicht mit Wunden. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Sie wollte das nicht sehen, aber es schien unvermeidbar. Sie fühlte sich so schuldig. Machte sich Vorwürfe, denn sie hatte es nicht geschafft ihn damals zu beschützen, zu verstecken. Sie wünschte sich oft, dass sie an Stelle von ihm hierher gekommen wäre. Wünschte, dass er die Chance auf ein Leben gehabt hätte. Mit Tränen in den Augen und schweren Schritten ging sie weiter. Schaute sich alles an. Das Krematorium, den Platz, an dem Menschen erschossen wurden, den Keller, in dem sie erhängt wurden und die Baracken, in denen sie leben mussten. Sie sah überall ihn. Sie sah ihn überall sterben und leiden. Die Gefühle, die sie hatte, waren unbeschreiblich. Es war eine Mischung aus Schuldgefühlen, Mitleid, Angst, Wut und Trauer. Vor allem Trauer. Aber auch Stolz. Stolz darauf, dass sie es nach all den Jahren geschafft hatte hier hin zu kommen. Man konnte sich nicht vorstellen was für eine Überwindung das für sie war. Sie verweilte noch einige Zeit auf dem großen Platz. Ließ die Eindrücke auf sich wirken. Sie ließ sogar die ganzen Szenarios zu, die sich in ihrem Kopf vor ihrem inneren Auge abspielten. Aber sie hatte auch gar keine Kraft mehr es zu verhindern. Sie hatte es all die Jahre erfolgreich verdrängt und jetzt war der Zeitpunkt, an dem es sie einholte. Sie wusste nicht, wie lange sie dort stand. Vielleicht nur ein paar Sekunden oder Minuten, aber vielleicht auch ein paar Stunden. Als sie sich einigermaßen wieder gefasst hatte, ging sie Richtung Tor. Sie öffnete es und setzte ihre Füße wieder in Richtung Freiheit. Es war als würde ihr bei jedem Schritt immer mehr und mehr von der Last abfallen, die sie all die Jahre mit sich trug. Ruckartig blieb sie stehen. Ihre Umwelt verblasste und ihr wurde ganz warm. Das Einzige, was sie sah, waren blaue Augen. Blaue Augen, die ihr Hoffnung gaben. Blaue Augen, die so unendlich viel liebe ausstrahlten. Blaue Augen, die ihr zu sagen schienen, dass sie nun loslassen kann; dass sie abschließen soll. „Ich liebe dich, Mama.“, hörte sie leise die teilweise jungenhafte und doch alt klingende Stimme ihres Sohnes. Jedoch schien sie sich zu entfernen, genau wie die Augen, die immer blasser zu werden schienen. Doch es war okay. Sie hatte seine Stimme ewig nicht mehr gehört, hatte Angst gehabt, dass sie sie vergessen hatte. Und dann war sie plötzlich wieder in der Realität. Keine Augen, keine Stimmen. Nur sie und die wenigen Menschen die sie umgaben. Doch sie hatte ein Lächeln in ihrem schrumpeligen alten Gesicht und Tränen in den Augen. Sie wusste selbst nicht, welche Ursache die Tränen hatten. Freude oder Trauer. Aber das spielte keine Rolle. Es war ihre Art damit umzugehen; ihre Art abzuschließen. Ihre Art mit dem Tod zurecht zu kommen. Denn jeder macht es anders, jedem das seine.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 09, 2019 ⏰

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