-Charlie-
Charlies Augen öffneten sich. Die bereits aufgegangene Sonne blendete ihn und er hielt sich schützend die Hand vors Gesicht. Kurz vergewisserte er sich, ob das doch nicht alles nur ein böser Traum gewesen war.
Aber Fehlanzeige: Da war immernoch sein Schlafplatz, den er sich gestern mit Mühe errichtet hatte, direkt neben seiner Wasserquelle dem Bach und der Feuerstelle. Stundenlang hatte er lockere Äste abgebrochen, sie zusammengelegt und sehr lange versucht, durch schnelles Reiben oder durch das aneinander schlagen von Steinen Funken zu erzeugen. Er wollte schon aufgeben, als er plötzlich auf dem Boden eine Packung Streichhölzer gefunden hatte. Sofort wurde ihm klar, dass jemand schon einmal auf dieser Insel gewesen sein muss... oder es immer noch war. Jedenfalls steckte er die Streichhölzer ein und konnte mit ihrer Hilfe doch noch das Feuer entfachen, welches in der eiskalten Nacht ihm Wärme spendete.
Möglichst nah am Waldrand hatte er sein Lager errichtet, damit er sah, wenn sich zufällig ein Schiff nähern würde. Diese Hoffnung bestand natürlich, aber es war recht unwahrscheinlich, das wusste er.
Doch Moment, da war etwas am Wasser. Viel mehr stand da jemand. Hatte er vielleicht etwas, um mit der Außenwelt zu kommunizieren?
Also rannte Charlie los, ehe er richtig aufgestanden war, nur um die Person beim Meer nicht zu verpassen. Wenn die Chance bestand, seine Freunde wiedersehen, würde er sie sich bestimmt nicht entgehen lassen. Erst wenige Meter vor der Person, versuchte er sie zu erkennen, weil er ja seine Brille nicht trug. Doch dann sah er den Menschen und... war enttäuscht.
"Du bist es nur",meinte er abwertend.
"Charlie, habe ich dir etwa nicht beigebracht, dass man so nicht seinen Vater begrüßt?"
Er ließ sich von seinem Vater umarmen, erwiderte die Umarmung aber nicht.
"Warum lässt du mich nicht in Ruhe? Alle haben überlebt, ich brauche deine Hilfe nicht mehr",entgegnete Charlie und er bereute es fast, so respektlos mit seinem Vater zu reden, aber rufte sich dann wieder in Erinnerung, dass es bloß Einbildung war. Jetzt kam er sich irgendwie dumm vor, mit sich selbst geredet zu haben."Weißt du, ich wollte dich gar nicht Charlie nennen, aber du kennst doch deine Mutter",sagte er und verdrehte seine Augen. "Charles hätte ja noch Klasse gehabt, doch sie musste ja natürlich auf Charlie bestehen."
Als er über seine Mutter redete, spürte Charlie einen Stich in seiner Brust. Sie war ein weiterer Grund dafür, dass er seinen Vater nicht mochte. Denn eines Morgens war sie einfach nicht mehr da gewesen. Er hatte seinem Sohn zwar erzählt, dass sie einfach abgehauen wäre, aber das glaubte er ihm nicht. Seine Mutter hätte ihn unmöglich ohne Verabschiedung verlassen. Also, was genau warf er seinem Vater eigentlich vor? Dass er sie verscheucht hätte? Dass er sie bedroht hätte? Dass er sie umgebracht hätte? Er würde ihm alles zutrauen. Besonders, weil er immer schlagartig das Thema wechselte, wenn er sich traute, ihn darauf anzusprechen.
"Was ist wirklich mit Mutter passiert?", fragte Charlie nach einer langen Pause. Auch wenn er mit einer seinem Unterbewusstsein sprach, wollte er eine Antwort hören. Diese Frage beschäftigte ihn schon so lange. "Oh, Charlie, manche Sache kannst du einfach noch nicht verstehen",erwiderte sein Vater und starrte aufs Meer. Charlie wollte noch weiter nachhaken, aber sein Vater fügte hinzu:
"Jeder hat seine Geheimnisse. Tu nicht so, als hättest du keins. Du willst dir auch etwas nicht eingestehen, nicht einmal vor dir selbst, nicht wahr?"Was meinte er? Natürlich würde Charlie seinem Vater jetzt unterstellen, dass er lügen würde, aber da er mit sich selbst sprach, konnte dieser gar nicht falsch liegen, oder? Also was verheimlichte Charlie, der sonst immer ein offenes Buch gewesen war, vor sich selbst?
Anstatt sich dieser Frage zu stellen, beschuldigte er ihn:
"Was weißt du schon? Schließlich ist es unmöglich, dass du hier bist." "Genauso unmöglich, wie dass du plötzlich auch ohne Brille in der Ferne alles scharf siehst?",entgegnete sein Vater. Was ein seltsamer Vergleich, dachte sich Charlie. Aber was wenn... Nur zur Sicherheit drehte er sich um, um seine Sehfähigkeit zu überprüfen. Eigentlich hätte er wieder nur Farbkleckse sehen dürfen, aber jetzt... war alles gestochen scharf. Woher wusste sein Va-..., sein Unterbewusstsein das? War es ihm überhaupt möglich das zu wissen, ohne dass er es ausprobieren musste?"Wie konntest du...?", fing er an, doch als er bemerkte, dass sein Vater nicht mehr da war, unterbrach er sich. Es schien, als würde er nur kommen, wenn es ihm passt. Sein richtiger Vater würde auch nur kommen, wenn für ihn etwas herausspringen würde.
Also schaute er sich wieder die nicht mehr verschwommene Landschaft an. Der grau-braune Farbklecks schien nun ein Gebäude zu ergeben. Hier muss anscheinend einige Menschen solange gelebt haben, bis sie so ein Gebäude errichten konnten. Anhand des Zustandes rechnete er sich eine hohe Wahrscheinlichkeit aus, dass dort immer noch Menschen lebten.Also nahm er nochmal einen großen Schluck Bachwasser und lief dann schnell zu dem Gebäude, das wohl einige Kilometer entfernt war. Diese Strecke und wieder zurück würde er locker auch gehend vor Sonnenuntergang schaffen, sodass er wieder auf seinem Schlafplatz sich ausruhen konnte. Aber er wollte möglichst bald dort sein, schließlich hatten diese anderen Menschen bestimmt Kontakt zur Außenwelt. Auch wenn er im Moment ganz gut allein zurecht kam, musste er ständig an seine Freunde und ehemaligen Mitschüler denken, die hilflos mitten auf dem Meer herumirrten. Und diese hatten keinen Zugang zu Wasser oder Essen, also konnten sie jede Minute, die er verschwendete, an den Folgen sterben. Bei diesem Gedanken rannte er wie der Blitz und zügelte sein Tempo erst, als er direkt vor der Tür des Gebäudes stand.
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Far away #wingaward2019 #TheIndividuals2019 #ColourAward18 #RainbowAward2019
Teen FictionEs sollte ein wunderschöner und unvergesslicher Abschluss einer langen Reise werden. Zur Feier ihres geschafften Schulabschlusses machte die gesamte Stufe einen Ausflug aufs offene Meer. Am letzten Abend der Kreuzfahrt wollte Aves sich endlich trau...