Einen Moment lang genieße ich das Brennen der kalten Winterluft in meiner Lunge, während ich wie gebannt den Atem anhalte. Regungslos liege ich in einem schneebedeckten Gebüsch, meine in Weiß gehüllte Gestalt verschmilzt mit den langen Schatten der untergehenden Abendsonne. Durch das Zielfernrohr der alten Mosin-Nagant starre ich auf die Lichtung; das majestätische Rentier, das sich wohl auf seiner Suche nach Futter hierher verirrt hat, habe ich bereits fest im Visier. Es ist ein prächtiges Exemplar mit riesigem Geweih und glänzendem, braun-weißen Fell.
„Tut mir leid, mein Freund", wispere ich in den Schnee. Es widerstrebt mir zu töten. Eigentlich ist es schon komisch, ich sollte daran gewöhnt sein, sollte wohl keinen einzigen Augenblick zögern und dennoch – es tut mir leid, so ein schönes Tier erlegen zu müssen. Ein Leben auszulöschen. Doch Hunger und Kälte sind die besten Argumente, um meine Skrupel aus der Welt zu schaffen. Mit einem tiefen Seufzer lasse ich die Luft also aus meinen Lungen entweichen. Ruhig und gleichmäßig pulsiert mein Herzschlag in meinen Ohren, eine Sekunde lang lausche ich dem beruhigenden Klang. Es erstaunt mich jedes Mal aufs Neue, wie friedlich die Sekunden davor sind. Die Ruhe vor dem Sturm.
Dann zerreißt ein lauter Knall die winterliche Stille, das Projektil zischt durch die Luft und bohrt sich direkt in das Auge des Rentiers. Ein perfekter Schuss – sofort sinkt es leblos zusammen, nach einem kurzen Moment der Zufriedenheit spüre ich jedoch wie immer sogleich ein leises Stechen in meiner Brust. Jagen ist eine Kunst, predigt mir Ljoscha immer. Ich solle stolz sein, so ein Talent dafür zu haben. Nun, manchmal wünschte ich wirklich, ich könnte mein ach-so-wundervolles Talent einfach vergeuden.
Neben mir ertönt ein leises Wimmern, fast schon automatisch nehme ich das Gewehr in die linke Hand, um mit der Rechten der Laika über den Kopf zu tätscheln. „Ich weiß, Skadi. Ich hasse das Geräusch auch", beruhige ich die Hündin und werfe ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, was sie ihren Kummer gleich vergessen und stattdessen freudig mit dem Schwanz wedeln lässt. An Eigenartigkeit bin ich wohl kaum zu überbieten – ich rede mit meinem Hund sanfter als mit den meisten Menschen. Na ja, ein Hund ist nur grausam auf Befehl eines Menschen. Unsereins ist das dagegen auch ganz ohne Befehl...
Rasch stehe ich auf, hänge mir meine Waffe über die Schulter und stampfe dann auch schon los. Auch meine kleine, graue Wölfin springt sogleich auf die Beine und trottet mir voraus, direkt auf das tote Rentier zu. Als auch ich bei unserer Beute ankomme, hat sie das Tier bereits ein paar Mal beschnuppert und sich gelangweilt wieder davon abgewandt. Stattdessen legt sie sich nun neben unsere Beute und beobachtet mich aus ihren klugen, bernsteinfarbenen Augen. „Wenn dich die Aussicht auf so ein üppiges Abendmahl noch nicht mal mehr beeindruckt, dann hat Ljoscha wohl tatsächlich recht und ich verwöhne dich viel zu sehr", grinse ich sie neckisch an, ehe ich das lange Jagdmesser aus meiner Manteltasche zaubere, um mich an die Arbeit zu machen.
Als ob sie protestieren wollte, bellt sie einmal laut auf, springt wieder auf die Beine und schüttelt sich kräftig durch, sodass der Schnee in ihrem Fell zu allen Seiten fliegt und auch mich trifft. Lachend beuge ich mich erneut zu ihr herab, um sie zu kraulen, doch Skadi stellt plötzlich die Ohren auf und fährt alarmiert in Richtung des Waldes herum. Instinktiv lasse ich das Messer fallen, reiße das Gewehr von der Schulter, entsichere die Waffe und richte sie auf den Fleck, auf den meine Hündin blickt, doch zwischen den Stämmen der riesigen Kiefern spitzt bloß ein kleiner, schmächtiger Junge hervor.
Seufzend lasse ich die Mosin wieder sinken und rolle genervt mit den Augen, während der Kleine flink wie ein Rehkitz durch den Schnee zu uns rennt, ehe er ehrfürchtig vor dem erlegten Rentier stehenbleibt. „Unglaublich!", ruft er atemlos aus und starrt das edle Geschöpf mit offenem Mund an.
„Dima, ich habe dir doch gesagt, dass du beim Schlitten bleiben sollst!", fahre ich ihn in scharfem Tonfall an, schürze die Lippen und schüttle missbilligend den Kopf. Zwar erzähle ich ihm jedes Mal aufs Neue, wenn er mich mit seinen großen Kinderaugen anfleht, endlich mal so richtig gemeinsam mit mir jagen gehen zu dürfen, dass jemand auf den Schlitten, die Hunde und die Beute aufpassen muss. Schließlich wisse man ja nie, ob die Sachen ansonsten nicht von anderen Jägern geklaut werden könnten. Doch das ist gelogen. Die Leute in der Gegend kennen meinen Schlitten und würden nie auf die Idee kommen, sich so offen mit mir anzulegen. Aber die Narben an meinen Oberarmen sind der beste Beweis dafür, dass die Jagd in den sibirischen Wäldern eben doch nicht ganz ungefährlich ist; wenn sich ein Bär vor dem Kleinen aufbaut, wird er im Schlitten schneller fliehen können als zu Fuß. Und was soll ich sagen, ich habe den kleinen Bengel im Laufe der Jahre ins Herz geschlossen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm etwas zustoßen würde.
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Strelok - Die Schützin
Ficção HistóricaEine alternative Geschichtsschreibung: 1947 unterzeichnen das Dritte Reich und die Sowjetunion den Waffenstillstand von Moskau, womit der Zweite Weltkrieg in Europa ein Ende findet. Im Februar 1964 wird die 21-jährige Elisabeth in Sibirien als Agent...