Sie drückte die winzige Handfläche gegen das Glas, sodass die Kälte jede Faser Ihres Körpers durchströmte. Obwohl Sie bei der Berührung kurz zusammenzuckte, ruhte Ihre Hand stumm auf der Scheibe. Die Tür öffnete sich mit einem knarrendem Geräusch und Sie nahm Schritte wahr, deren dumpfer Ton Ihr bekannt vorkam. Nichtsdestotrotz verharrte Sie in Ihrer Position und genoss das Gefühl auf Ihren Fingerspitzen, selbst, als plötzlich eine Hand sanft auf Ihren Kopf platziert wurde und Sie eine zarte Stimme vernahm, welche bestimmt fragte, was Sie denn machen würde.
„Stimmt es denn, dass es schneit?", entgegnete Sie mit leiser Stimme und presste Ihre Hand fester gegen die Scheibe, um die Eiseskälte zu spüren. Sie unterdrückte die Schmerzen.
Die Gestalt lehnte sich etwas vor und zögerte einen Moment, bevor diese antwortete: „Hmm, ja. Willst du nicht lieber mit mir kommen und einen Kakao trinken? Hier ist es ganz kalt." Ihre Hand trennte sich von der geliebten Kälte, während Ihr stummes Augenpaar auf dem Fenster ruhte. Der Druck auf Ihrem Kopf löste sich und stattdessen fühlte Sie die Wärme der Gestalt, welche Ihre kleinen, frostigen Hände umschloss. Als Sie aus dem Raum geführt wurde, verharrte Sie für einen Moment in Ihrer Bewegung und fragte neugierig: „Wie sieht Schnee aus? Ich weiß nur, dass er ganz kalt ist!" Sie konnte die Schritte der Gestalt nicht mehr wahrnehmen, sodass Sie annahm, dass diese ebenfalls stehengeblieben sei. Stille legte sich über den Raum. Anstatt die sonst so zarte Stimme zu vernehmen, verließ Sie die Wärme und Sie hörte, wie diese sich immer weiter von Ihr entfernte.
Sie wurde morgens durch ein dumpfes Geräusch geweckt, welches dem Äußeren des Hauses entsprang. Nach einem kurzen Gähnen und Strecken der Glieder rappelte Sie sich auf und fuhr mit der kleinen Hand an der Wand entlang, bis sie etwas Kaltes spürte. Ihr Griff um den metallenen Stab wurde fester und Ihre nackten Füße berührten nun den Boden. Mit dem Stock voran tastete Sie sich den Weg durch die Dunkelheit. Als die Spitze auf etwas Hartes traf, streckte Sie Ihren Arm aus und umschloss die Klinke, welche durch ein Drücken in senkrechter Richtung das Hindernis entfernte. Dahinter wurde Sie von der Stille empfangen, welche den Gang umschloss. Nur ein leises Schnarchen konnte Sie aus einer geringen Distanz wahrnehmen. So streifte Sie sich die Gummistiefel, welche keinesfalls nur nach Gummi schmeckten, über die Füße und entfernte das nächste Hindernis vor Ihr, wobei Sie allerdings zuerst den metallenen Schlüssel drehen und insgesamt mit mehr Druck arbeiten musste, damit die Klinke sich ihrem Willen beugte.
Dann spürte Sie eine eiskalte Windböe, von welcher Sie, begleitet von lautem Poltern und Rattern, freudig empfangen wurde. Sie vernahm ein aufregendes Kribbeln auf der Haut, als die Kälte auf Ihre nackten Arme traf. Sie zog weiter durch die Welt und sog die Luft tief ein, als eine hohe Stimme nach Ihr rief: „Ey, du da! Du, die aus dem Haus kommt!" Sie wirbelte herum und versuchte, die Richtung zu identifizieren, aus der der plötzliche Ruf kam, was ihr jedoch nicht gelang. Ein schrilles Lachen ertönte, welches die sonst so lauten Geräusche in der Umgebung übertönte, wodurch Sie zusammenfuhr. Plötzlich vernahm Sie einen Druck auf der Schulter, eine Hand, welche Ihren Körper der Stimme zuwenden ließ. „Was machst du? Wieso antwortest du mir nicht?" Sie erkannte, dass es ein Junge Ihres Alters sein müsste, da die Stimme nicht nur vorwurfsvoll, sondern ebenfalls hoch und jung klang. Nichtsdestotrotz entschied Sie sich dazu, zu schweigen, da Ihre Mutter es Ihr verboten hatte, mit Fremden zu sprechen. Er gab jedoch nicht nach und nach einer raschen Pause führte Er die einseitige Konversation weiter: „Wir ziehen heute in hier ein, aber ist echt lahm. Ich wollte gar nicht umziehen." Stille war die Antwort. „Sag mal, wo schaust du eigentlich hin? So spannend ist unser Haus auch nicht." Stille war die Antwort. „Naja, bist halt hoffnungslos. Wenigstens liegt hier Schnee, die einzige gute Sache."
Daraufhin stampfte Sie auf den Grund und nahm zum ersten Mal wahr, wie sich der Boden weich unter Ihren Schuhsohlen senkte und ein seltsames Knirrschen erzeugte, welches aber bald immer dumpfer wurde und als kleiner Schrei am Morgen verstummte. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben und aus Ihrem Mund entwich ein Lachen voller Euphorie. Dann verharrte Sie in Ihrer Bewegung und wandte erstmals Ihre Stimme an Ihn: „Sag mal, weißt du, wie Schnee aussieht?" Er lachte rasch auf, denkend, dass Sie Späße machen würde, verstummte aber wieder, wahrscheinlich, weil Ihre Miene wie eingefroren scheinte. „Bist du blöd? Hier liegt doch überall Schnee, guck' doch einfach!", antwortete Er mit einem Hauch Wut und Verhöhnung in der Stimme. „Ich kann nichts sehen", murmelte Sie bedrückt. Sie kniete in dem Schnee und grub Ihre Hände in die Masse. Als der kalte Stoff Ihre Lippen berührte, nahm Sie wahr, wie der Schnee in Ihrem Mund schmolz und zu Wasser wurde. „Gar nichts?", fragte Er nun und kniete sich neben Sie, was durch das Knirrschen des Schnees angedeutet wurde. „Gar nichts." Und Sie aß weiter die Masse, so, als ob Sie hoffen würde, dass diese weiterhin flüssig werden würde.
„Er ist weiß und wenn man genau hinsieht, besteht er aus ganz vielen kleinen Kristallen, guck'!", fing er an und drückte etwas Nasses gegen Ihre Pausbäckchen, welche durch Ihr breites Lächeln angespannt waren. „Das klingt toll. Ich habe gehört, dass Kristalle im Licht glänzen und die Leute ganz viel Geld dafür wollen. Aber wie sieht weiß aus? Ich konnte nie Farben sehen." Erneut verließ ein schrilles Lachen Seinen Körper und Sie nahm ein Klatschen wahr. „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Weiß ist halt Weiß. Das ist genau so eine dumme Frage wie: Weißt du, wonach Blau schmeckt? Farben haben kein Aussehen oder Geschmack, sie sind einfach, wie sie sind." Sie überlegte und antwortete daraufhin: „Aber Blaubeeren schmecken doch ganz süß und sauer! Dann kann man Blau auch erklären." Er strich Ihr sanft über den kleinen Kopf und entgegnete nur: „Vielleicht kann ich es dir sagen, wenn ich zur Schule gehe und schlauer bin." Sie nickte.
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Träumen in Blau
Romance«Er trifft auf Sie. Er, der die Welt aus den Augen verloren hat. Sie, die die Welt nie sah.» Er wird erneut auf Sie treffen und diesmal zeigt Sie Ihm die Welt.