In einer Zeit der Dämmerung spielte ein namenloses Kind auf den gebrechlichen Straßen der träumenden Stadt mit seinem Mond. In seiner silber funkelnden Vollkommenheit übertraf er himmelweit den alten Mond, so zerfressen und verstaubt er nach all der Zeit gewesen war, die er über die wachen Körper der Erdgebundenen Wesen wachen musste. Heute und immer war der Alte zu nichts geworden. Und wer hinter seiner Maske mit nichts anzufangen wusste, der spielte eben mit einem neuen Mond Fußball. So brauchte man weder Namen, noch Spielkameraden. Die Tore, auf die das Kind da schoss, standen weit, zu weit voneinander entfernt, um sie zu sehen. Sie waren einmal, als sie ihre Flügel das erste mal geööfnet und später das letzte mal geschlossen hatten, auseinander getrieben, doch trotzdem traf das Kind sie mit einer Leichtigkeit, wie sie nur ein Kind in jeden Tritt legen konnte, denn Kinder haben noch nicht vergessen können, was ihnen in der träumenden Stadt jetzt ohnehin kein Erwachsener mehr lehren konnte. Von diesem Unwissen gesegnet spielte es also weiter mit seinem Mond, gluckste Vergnügt vor sich hin und schoss auf beide Tore nacheinander, erst das aus Horn, dann das aus Elfenbein. Die falschen und die wahren Träume.
Doch dieses katzengleiche Scharren an den Türen der vergessenen Heimat weckte nicht nur die Kinder der einstmals wachen Welt, die zögerlich das Mondlicht zu umrimgen begannen. Ein Loch tat sich auf, dort, wo die Straße um eine Ecke hinkte und dann abruppt endete, sich dem hingebend, was da kommen wollte. Die Kinder wussten vorerst noch nichts davon. Munter traten sie den Mond umher, den selten über die Bühne schleichenden Moment der Klarheit sinnvoll ausnutzend, voll Liebe zueinander, die der Unsinn des Treibens gemalt hatte.
Gerne hätten sie im hüpfenden Schein ihres Vergnügens die Gesichter ihrer Spielkameraden gesehen. Stattdessen sahen sie Masken, die einzige Lehre der Erwachsenen, von der sie sich nicht mehr lossagen konnten. Je länger diese Fratzen durch das silberne Ballspiel tanzten, desto langsamer und trübseliger wurde es ihnen, bis das gequälte Lachen von der Dämmerung beklagt wurde und letztendlich verstummte. So zogen sie sich stockend zurück in die Stille, bis das Mondkind wieder alleine auf der Straße stand. Es wünschte darüber weinen zu können. Aber was bringt es Tränen für einen Wunsch zu verschwenden, wenn man sich hinter einer Maske verstecken musste, wenn man nicht einmal wusste, wovor? 'Wunsch' ist wahrlich ein einsames Wort in der träumenden Stadt, besonders für ein naives Kind. Sein Wunsch war der neue Mond gewesen, ein Bildnis der Menschlichkeit, an die es sich erinnern wollte. Wo waren diese Erinnerungen hin? Wozu brauchte es seinen Mond eigentlich noch? Soll er doch zerfressen werden und einstauben! Das Kind holte aus und schleuderte den Ball weg, weit, weit weg von den beiden Toren. Mit sich selbst. Sie tat weh, die Maske, so weh, dass es auch sie packte, um sich vor dem brennen auf seiner Haut zu befreien.
Stattdessen lief es um jehne Ecke, hinter die es den Ball geworfen hatte. Niemals die Maske absetzen. Das hatte es sich von den Erwachsenen abgeguckt. Gut war diese Entswcheidung gewesen. Jetzt blickte es starr hinab in den Schlund der Erinnerungen, den das scharren an den Toren der wachen Welt herauf beschworen hatte. Ein Schock rüttelte an seinem Geist. Nicht aus der Angst, in das Loch hineinstürzen zu können. Und auch nicht, weil es die Dunkelheit fürchtete, die so schwer aus dem inneren hervor strömte, dass die ausschließlich vom Dämmerlicht des toten Himmels erleuchteten Straßen dagegen grell wirkten. Eine Gewissheit unbekannter Herkunft hatte es umfasst, eine Gewissheit darüber, dass, hätte es jetzt seine Maske fortgeworfen, dieses Loch wie eine große Schlange hervorgestoßen wäre um sein Gesicht fortgerissen hätte. Es hatte schon einmal einen Gesichtslosen gesehen. Damals hatte es sich gefragt, warum man denn sein Gesicht nicht mehr haben wollen würde. Wie sollte man denn sonst essen? Auch in diesem Moment, so erinnerte es sich jetzt, war diese plötzliche Gewissheit eingeschlagen:
Nicht essen würde dies Wesen, bis es sich einen neuen Mund gestohlen hatte.
Es konnte kein Zufall sein, das dieser Abgrund es zur Furcht davor trieb, sein Gesicht zu verlieren, wenn es zuvor bereits eine Kreatur gesehen hatte, die ihm jetzt als ein Bote dieser Furcht gegenüber trat. Aber kurz, bevor das Kind wieder umdrehen wollte, durchbrach ein blendender Silberstreifen die gesichtslose Kreatur der Finsternis: "Ich habe ja meine Maske! Niemand wird also mein Gesicht haben können!"
Dieser Silberstreifen kindlicher Einfältigkeit erleuchtete schließlich auch die Schwärze des unehimlichen Abgrunds. Und tief, tief unten resonierten die Erleichterung und das versteckte lächeln des Kindes mit seinem Mond, er strahlte jetzt so hell, dass sein kleiner Mensch es sehen konnte. Er leuchtete ihm den Weg! Jetzt wusste es, was zu tun galt. Wegen ihm war sein Mond in dieses schrecklliche Loch gestürzt und es würde ihm auch wieder dort hinaus helfen. Dem Silber nach trat es den Abstieg in die Düsternis an, die lebendig im Untergrund der Traumlande pulsierte, ein riesiges Herz, durchblutet von ausgehüllten Hoffnungen der Erdgebundenen. Hier schmeckte nicht nur die Zunge eine dem Kind sehr vertraute Bitterkeit. Es war die Leere auf den Masken der anderen Kinder. Sie kamen und gingen ununterbrochen,um sich selbst weh zu tun mit der flüchtigen Freude, wenn es wieder Zeit wurde mit dem neuen Mond zu spielen. Das war die große Erdrückung in den Katakomben der träumenden Stadt, und in vielerlei anderer Gestalt erschien sie den vielen Anderen der Oberfläche, die ihr begegneten.
Nur ein Kind konnte diesen Wahnsinn verstehen und in fassbare Gedanken kneten, ohne sich dabei selbst in den Wirbelsturm des eigenen Verstands zu werfen. Um alle Hoffnung aufzugeben muss man weniger sein als die Hoffnung in Person, die, wie jeder wusste, als Kind geboren wurden, tanzende Sterne im paradoxen Chaos. Mondkinds eigenes Licht glimmte jetzt mit jedem Schritt heller, bis es irgendwann den Schein seines Freundes nicht nur aus der Tiefe winken spürte, sondern selbst zu ihm wurde. Und als es daraufhin sah, was seinen kleinen Hände den gesamten Abstieg lang als Halt gedient hatte, wuchs ein reißendes Entsetzen unter seiner Maske hervor. Das Echo seiner Schreie raste plötzlich mit ihm gemeinsam in die Untiefen hinab. Gerade noch rechtzeitig hatte es die bleiche, sich windende Auftürmung nackter Körper losgelassen, aus der auf einmal Hände gewachsen waren, Hände, die zu einem lebendigen Gewimmel gesichtsloser Leiber gehörte und die mit hungriger Verzweiflung nach dem gefallenen Kind griffen. Bald schon gingen seine Schreie unter in einem kalten, rasselndem Stöhnen, das ein vielstimmiges Konzert übereinander wälzender Leiber und brechender Knochen dirigierte. Von Meter zu Meter streckten sich die Arme des Abgrunds länger, dünner, unmenschlicher, bis sie nichts mehr gemein mit den Armen hatten, die das Kind abwechselnd an seinen Leib presste oder verzweifelt nach halt suchend durch die Luft ruderte, um es sofort wieder zu bereuen, wenn es ihn zu fassen bekam. Immer öfter streiften die gedehnten Finger das Kind und ließen es immer heftiger strampeln, wenn ihm das Grauen mit jeder albtraumhaften Berührung tiefer ins Fleisch schnitt. Der Fall verlangsamte sich stetig, mit jedem Griff.
Und da begriff es, nach was es ihnen verlangte: die Gesichtslosen versuchten ihm die Maske abzuziehen.
Seinen Mund zu stehlen, damit sie nicht verhungern mussten.
Oder wollten sie vielleicht mehr, als nur den Mund? Augen, um sich im Spiegel zu sehen? Eine Nase, um den Geschmack wieder für sich zu entdecken?
Gerade, als dieser Gedankenzug zum stehen gekommen war, endete sein Fall abruppt. Die Katakomben hatten das Menschenkind endlich gefasst. Vollkommen verdrehte, grau-schwarze Klauen tasteten sich langsam am Mondkind hinauf. Ihre Erscheinung war so schrecklich widerwärtig, dass die Stimme des Kindes letztendlich abbrach und die nicht mehr zu bändigende Angst ihm in der Kehle hängen blieb. Sie waren so wild verwuchert, dass sie teilweise eher hautlosen Gärten als Gliedmaßen ähnelten. Und es kam noch schlimmer. Mit einem Mal zogen sich die Grotesken Gebilde krachend und schmatzend auseinander. In ihrem innern entblößten sie schreckliche, Zahnlose Schlunde, mit tausenden von Augen bewachsenen Zungen, in denen das Kind jetzt alles sehen konnte. Der Grund, warum die Tore aus Horn und Elfenbein soweit voneinader getrieben waren. Der Grund, aus dem Erwachsene Masken trugen und Kinder nicht verstanden, warum sie das taten. Die träumende Stadt war das Grab all der Wahrheiten, Lügen, gestorbenen Wünschen. Sie war eine lebendige Strafe für das, was die Menschen nicht begehren wollten, aber begehren mussten. Und sie selbst hatten sich diese Geißel auferlegt. Dagegen anzukämpfen hatte keinen Sinn. Das Kind ließ sie gewähren, mit dem friedvollen Gedanken daran, dass diese vergessene Antwort auf die träumende Stadt letztendlich doch wieder ihren Weg zurück zu einem mehr gefunden hatte. Um davon zu wissen brauchte es sein Gesicht nicht länger. Keine Maske mehr.
Dennoch. Wieso hatte seine Mond es hierzu treiben müssen? Warum war wünschen nur so schrecklich einsam?
Dann kam die Erlösung. Unerwarteter Weise von unten. Aber das konnte nicht richtig sein. Die Demaskierung musste es selbst vornehmen, oder nicht?
Aber dazu kam es nicht mehr. Eine unglaubliche Kraft erfasste, die Arme wichen Kreischend zurück in ihre Leere und ehe es aus der Trance der Erkenntnis erwacht war, saß es wieder mit seinem Mond auf der buckligen Straße. Das Loch war verschwunden, aber nicht die Maske, nach der das Kind langsam zu tasten begann.
"Sie ist noch da..." sprach es, "wer bist du, dass du mir das antust?" Es blickte zu der Gestalt auf, dessen langer Schatten sich über es streckte. Zu erkennen war nicht besonders viel, so verboten groß war der Übeltäter. Er hielt den hassgeliebten Mond in seiner Hand, der darin aussah, wie eine sehr schwach glimmende Murmel. In diesem dünnen Licht zu erkennen war eine schwarze, schwalbenschwänzige Robe, die Müde um die ausgezerrte Skeletterscheinung im Wind wigte. Den Kopf sah Mondkind nicht, nur etwas, das einem zu groß geratenen Wollknäul mit herab hängenden Fäden ähnelte. Mondkind hatte nie etwas so riesenhaftes Ding gesehen. Sogar seine Schuhe waren enorm, größer als es selbst! War es denn kein Mensch? Konnten so gebrechlich aussehende Stelzenbeine einen so schweren Körper tragen, ohne abzubrechen? Abzubrechen, wie die langen Finger der Tiefe, welche sich an ihm nähren, sein Gesicht herunter reißen wollten, wie ein Pflaster...
Mondkind schlang die Arme um sich und zitterte. Da war es gewesen? Inmitten all der zerstörten Seelen? So viel Angst. So viel Angst vor der Leere... und beinahe wäre es Teil davon geworden.
War seine Rettung zu betrauern, oder zu celebrieren?
Das Kind fuhr sich Gedankenverloren über die Maske. Das zittern wurde allmälich schwächer. Nur die Frage blieb zurück, schwimmend in einer tiefen, kleinen Pfütze aus Gefühlen, die ein Kind noch gar nicht kenne sollte: Gleichgültigkeit. Melancholie. Oder auch: die träumende Stadt.Jetzt spielten sie Fußball. Der Mond hatte zwar nach seinem Tauchgang einiges an Licht eingebüßt, aber an seiner eignung für Albernheiten hatte sich nichts geändert. Notwendigkeit war das, was das Mondkind dem Großen als kennen Lernen vorgeschlagen hatte. Ob er spielen wolle, wollte es wissen. "Ich möchte dich kennen lernen!"
In Wirklichkeit verabschiedete es sich, das wusste es genau. Die Mauer des Schlafes war gefallen, als es seinen Mond zurück holen wollte. Nun blieb nur noch ein letztes Spiel der der Kindheit, bevor er erlischen würde, wie es auch der alte Mond vor ihm getan hatte. Etwas erleichternd war dieser Spaß. Es sah unglaublich komisch aus, wie der Riese ungeschickt seine Sargschuhe mit den Zahnstocherbeinen über den Platz hiefte. Jeder Schritt gleich einem stolpern, jeder Tritt einem halben Salto. Einfach konnte man das Spiel nicht nennen, zumindest für den kleineren der Beiden. Aber durchaus vergnüglich. Ob der eigenartige Kamerad eine ähnliche Meinung vertrat, war nicht einfach festzustellen, weil er seit seinem Erscheinen noch kein Wort gesprochen hatte. Nicht, dass das eine Rolle spielte. Für das Kind war er nichts weiter als eine Brücke zur anderen Seite. Sein Mond wurde nach jedem stätig tiefer klingendem Lachen blasser und blasser, bis die Farbe zum Schluss ganz aus ihm wich, er zum letzten Mal in Richtung des Großmanns getrieben wurde und dort zum stehen kam.
Und Mondkind?
Das war tot.
Seinen Platz über einem Haufen abgelegter, zu klein gewordener Klamotten hatten eine junge Frau eingenommen, auf deren Gesicht noch immer eine Maske ruhte, die ihr allerdings jetzt ein wenig zu klein geworden war, deshalb nahm sie nur die Hälfte der nötigen Fläche einnahm.
Schweigend starrten die Gestalten einander an. Wartend. Fragend.
Endlich sprach die Frau zu dem Großen: "Ist das der Grund?"
Die Kreatur schüttelte den wuchtigen Kopf.
"Komm bitte näher. Ich will dich genauer ansehen."
Diesmal tat der Große, wie gebeten und trat aus seinem Schatten heraus. Im Dämmerlicht kam ein übergroßer, bunter Schal zum Vorschein, der zuvor den Eindruck eines aufgedunsenen Schädels erweckt hatte. Sein eigentlicher Kopf war hinter den dicken Stoffschichten verborgen. Einzig eine Mütze schaute heraus, auf der ein allsehendes Auge umherglubschte.
Es folgte eine Pause.
"Beantwortest du mir eine Frage?", sagte die Frau dann wieder. Sie blickte zum Himmel hinauf, an dem regungslose Wolken die Zeit zu verhöhnen schienen. "Warum das alles?"
Jetzt sprach auch er: auf seine Weise. Er hob den erkalteten Mond vom Boden auf und schob ihn zwischen die Falten seines Schals. Kurz darauf knackte es hörbar und ein Schwall dunklen Blutes tränkte den Stoff. Dann machte er plötzlich einen langen Schritt auf die Frau zu, beugte sich hinab und nahm die Kinderklamotten an sich.
"Ich verstehe", sprach sie, wärend sie dem Geschöpf dabei zusah, wie es Nadel und Faden aus seiner Brusttasche zückte, um die Klamotten des Mondkinds an seinen Schal zu nähen, wie so viele Kleider davor, wärend es schlürfend die letzten Reste des Blutes aus ihm heraus saugte.
War diese Rettung zu bedauern, oder zu celebrieren?
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Das Gefäß der Unschuld
Short StoryIn der träumenden Stadt trägt jeder Mensch eine Maske. Und jeder Mensch lebt seinen Wunsch. Wieso, fragt das Mondkind sich. Bald schon wird es seine Antwort bekommen...