A Goodnight Story

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Hart traf SEINE Hand auf meine Haut, nicht das erste Mal an jenem Tag. Ich fiel zu Boden, hinab
von meinem Stuhl, weg von unserem Esstisch. „Schwuchtel!“, schrie ER, während es an der Tür
klingelte. ER ging, öffnete sie, als meine Mutter bereits die leeren Teller aus dem Zimmer trug. Das
Abendessen war heute wieder besonders unbehaglich gewesen und es wurde nicht besser.
Ein Blick zu meinem jüngeren Bruder sprach Bände. Er war bleich, starrte auf die Holzplatte vor
sich. Er saß für seinen Teil noch am Tisch, doch dies würde sich bald ändern und er wusste das.
Genauso gut, wie ich es wusste, wie meine Mutter es wohl wissen musste. So etwas blieb nicht
einfach unbemerkt. Außer vielleicht von unserer Schwester. Diese war noch viel zu jung um
überhaupt etwas davon zu verstehen.
„Steh auf!“ Mit diesen Worten zerrte ER meinen Bruder vom Tisch. Dieser wehrte sich, schrie,
weinte, doch das half nichts. Ich wusste das und er mit Sicherheit auch. Natürlich stand ich auf,
wollte meinem Geschwisterchen helfen. Wollte IHN aufhalten, doch was soll ich sagen? Ich war
jung, war ein Kind, hatte nicht den Hauch einer Chance. Ich konnte mich nicht wehren und ich
konnte meinen Bruder nicht verteidigen. Wie auch? Die Prellungen an meinem Körper waren frisch,
wie immer. Ich war schmächtig, nicht wirklich groß oder stark. Nein, ich hatte keine Chance.
Dennoch versuchte ich es. Ich riss an SEINEM Arm, dass er meinen Bruder los ließ, doch ER stieß
mich weg. Wieder fiel ich zu Boden, mein Herz zerbrach wie eine Vase, als ich dort auf dem harten
Untergrund aufschlug. Denn ich wusste es.
„Bitte nicht! Bitte!!“, die Stimme meines kleinen Bruders brach. Er war noch so jung, doch daran
störte sich SEIN Freund nicht, welcher gerade durch die Eingangstür unser Haus betreten hatte.
Dieser Freund lockerte seinen Gürtel, während er meinen Bruder gegen die Wand des Flures
drückte. Sie hatten es nicht einmal bis zu unserem Zimmer geschafft. Ich drehte mich weg, wollte
es nicht sehen. „Gefällt dir das?!“, schrie mein Vater wütend, sah sich das ganze Szenarium
gehässig lachend an. Ich wusste, dass dieser Freund nur dazu hier war, meinem Bruder Angst zu
machen. Sie hätten ihn wohl nie wirklich vergewaltigt. Sie zogen sich nur die Hose hinab, fassten
meinem Bruder in den Schritt und das war es. Nichts dabei, so stellte ER es immer dar.
Damit wollte ER meinem Bruder die Seele stehlen. Weil er schwul war. Weil ich ihn „angesteckt“
hatte, wie ER es immer zu sagen pflegte. ER würde meinem Bruder ja nur helfen.
Nur, dass es für ihn keine Hilfe war. Es brach ihn. Ganz und gar.
Ich wandte mich weg, ich wollte es nicht sehen. Doch dort, vor mir, da sah ich wie meine Mutter
unsere Schwester aus ihrem Kinderstuhl nahm. Sie trug die Kleine schnell weg. Der
„Sonnenschein“ der Familie sollte keine Schreie hören. Das Baby sollte nicht sehen, was ER uns
antat. Obwohl doch eigentlich nichts dabei war.
„Gut. Dann bis nächste Woche.“, verabschiedete ER seinen Freund zur nächsten Sitzung, während
ich noch immer auf dem Boden lag. Ich hatte es nicht gewagt, mich zu rühren. Ich spürte, wie ER
auf mich zukam. ER sah abfällig zu mir hinab, ehe SEIN Fuß abermals auf mich traf. Wie schon so
oft. „Komm hoch oder bist du auch dafür zu dumm?!“ Ich stand auf. Mein Fokus lag auf der Wand,
ich konnte IHM nicht in die Augen sehen. Nicht nach alledem. ER schlug mich mit der flachen
Hand ins Gesicht, wieder und wieder. Doch ich zeigte keine Reaktion, bis mir das Blut am Kinn
hinab tropfte. „Ich will euch beide heute nicht mehr sehen, kapiert?!“, wies ER an und ich nickte
stumm. Meine Seele hatte ER bereits vor Jahren gebrochen. Und ich hatte damals keinen großen
Bruder gehabt, der bereit war, meine Hand zu halten, wenn ich nachts weinte.
Schweigend betrat ich den Flur, sah ihn dort liegen. Er kauerte sich schluchzend zusammen und
zitterte am ganzen Körper. Als ich meine Hand nach ihm streckte, um ihm beim Aufstehen zu
helfen, zuckte er vor Angst. Er war am Ende. Ich fragte mich schon, wie lange es wohl noch dauern
würde, bis er versuchen würde, sich das Leben zu nehmen. Wie ich damals. Bevor er zu Welt
gekommen war. Bevor ich erkannt hatte, dass er mir leider nicht unähnlich genug war. Ich hatte
gewusst, dass ER uns beide niemals in Ruhe lassen würde. Darum lebte ich noch. Ich wollte meinen
Bruder retten, doch ich versagte auf ganzer Linie. Das war mir klar, dennoch kam ich nicht dagegen
an. Also hoffte ich darauf, dass er es beendete. Wäre es für ihn vorbei, dann konnte auch ich diese
Welt verlassen.
Ich stützte meinen Bruder. Er war nur wenige Jahre jünger, doch viel kleiner und noch dünner als
ich. Oft dachte ich, dass er viel zu wenig aß, doch ich konnte es ihm nicht verübeln. Immerhin saß
ER mit am Tisch. Mein Bruder hatte lockiges, dunkles Haar und helle Augen. Er war bildschön,
doch das würde er selbst wohl niemals erkennen. Zu lange schon wurde ihm gesagt, er sei wertlos,
hässlich, dumm. Irgendwann glaubte man das.
Vorsichtig legte ich ihn in unser Hochbett. Er schlief unten, ich eigentlich oben. Eigentlich. Denn in
letzter Zeit verbrachte ich mehr Zeit unten, als oben auf meiner Ebene. „Bleib bei mir.“, schluchzte
er so leise, dass man es leicht hätte überhören können. Doch ich nahm es wahr, es war schon fast
alltäglich. Ich dachte, er fühlte sich vielleicht beschützt wenn ich bei ihm lag. Vielleicht hatte er
Angst, Nachts von IHM angegriffen zu werden. Ich verstand das gut. Mir ging es ähnlich.
Also legte ich mich zu meinem Bruder, wir zogen die Decke über uns, bis zur Nase. Er zitterte noch
immer, doch ich ignorierte es. Es schmerzte zu sehr, ihn so zu erleben. Es tat mir im Herzen weh,
dass ich ihm nicht helfen konnte. Das war das schlimmste an der Sache, sehen zu müssen, wie er
litt.
„Hast du was?“, hauchte er leise und wischte sich die salzigen Tränen aus dem Gesicht. Ich konnte
ihn vielleicht nicht verteidigen, ihm nicht den Rücken stärken. Doch ich konnte es sehr wohl
erträglicher für ihn machen.
Und so erhob ich mich vom Bett, holte es aus meinem Geheimversteck. Mein Besteck.
Das Heroin vorzubereiten war nicht ganz einfach. Es gehörte schon ein wenig dazu, doch ich war
geübt. Mittlerweile. Daher ging es relativ zügig und schließlich konnte mein Bruder wieder
durchatmen. Der Schuss erleichterte ihm das Leben. Ich dachte manchmal, Fixen wäre das einzig
Gute in seinem Leben. Und das einzige, was an meinem Leben „gut“ war, war mein Bruder.
Nachdem der Schuss gesetzt war und ich alle Utensilien wieder versteckt hatte, kroch ich erneut zu
ihm unter die Bettdecke. Er sah zu der Holzplatte über uns empor, in seinen Augen lag eine Art von
Frieden, den es sonst nicht für uns gab. „Denkst du, es wird irgendwann besser?“ Seine Stimme war
eher ein Flüstern, doch stockte er, nuschelte ziemlich. Und ich wusste, ich hätte bejahen sollen,
doch ich wollte ihn nicht belügen. „Nein.“, entgegnete ich also, bevor ich mich auf die Seite drehte,
weg von ihm. Während er an einen bunteren Ort abdriftete. Weit weg von den Grausamkeiten des
Alltags. Und ich hörte sein leises Atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Stille. „Gute Nacht.“, sprach ich
leise und schloss die Augen.

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