San Tanadina

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Irgendwie fühlte Julia sich ganz schön albern, als sie in den Spiegel sah, der gleich neben dem Eingang hing. Sie steckte in einem hautengen Kleid aus feiner orangener Viskose, das rechts knapp über ihrem Knie endete und links etwa zwanzig Zentimeter tiefer in einer Spitze auslief. Darüber lag ein hauchdünnes schwarzes Gewebe, das an Tüll oder Organza denken ließ und von den Hüften abwärts einen Druck von Spinnweben und orangenen Kürbissen aufwies. Auf ihrem Kopf saß, schräg in ihrem hochgesteckten Haar befestigt, ein albernes kleines Hütchen mit einem dieser grässlichen Halloweenkürbisse. Sie seufzte. Aus irgendeinem Grund endete sie bei solchen Gelegenheiten immer als Hexe. Warum musste man sich an Halloween eigentlich verkleiden? Und was, um Gottes Willen, wollte sie auf dieser schrecklichen Party? Sie kannte hier doch niemanden - naja, außer Becky. Und Becky war dann auch der einzige Grund dafür, dass sie hier war. Wenn Becky nicht darauf bestanden hätte, sie wäre lieber brav zu Hause geblieben, hätte vielleicht ein bisschen ferngesehen und wäre dann pünktlich für den letzten Schultag in dieser Woche schlafen gegangen, aber … . Irgendjemand rempelte sie an. Erschrocken sah sie an sich hinunter. Nein, Glück gehabt! Ihr Kostüm war trocken und sauber. Ihre Cola allerdings lag in einer riesigen schmutzigen Lake am Boden. Dunkel nahm sie wahr, dass jemand eine Entschuldigung vor sich her nuschelte und weiterging. Okay, jetzt reichte es. Angenervt sah sie auf ihre Uhr. Der Abend mochte ja vielleicht verloren sein, aber die Möglichkeit rechtzeitig ins Bett zu kommen, die hatte sie noch. Entschlossen machte sie sich auf die Suche nach ihrer Cousine, die sich vermutlich irgendwo im dicksten Gedränge hinten in der Halle herumtrieb. Irgendwie schaffte sie es immer einen Haufen Leute um sich zu scharen - selbst da wo sie wirklich niemanden kannte. Vorsichtig drängelte Julia sich durch eine Gruppe Jugendlicher, die etwas älter waren als sie. Überhaupt schienen hier alle älter als sie zu sein. Jedenfalls hatte sie noch niemanden entdeckt, der in ihrem Alter war. Beinahe stieß sie mit einem Jungen zusammen, der eine etwas ungewöhnliche Verkleidung gewählt hatte und ein Eulenkostüm trug. “Oh, entschuldige!” Sie sah zu ihm auf und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Wie ein Blitz traf sie die Gewissheit, dass sie … ja, dass sie etwas mit diesem Jungen verband. Einen Atemzug lang sah sie sprachlos in ein paar unglaublich leuchtender tiefgrüner Augen, doch dann schüttelte sie heftig den Kopf und zwang sich wegzusehen. Sie ging weiter. Sie kannte diesen Typen gar nicht. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Nach ein paar Schritten blieb sie jedoch irritiert stehen und sah sich um. Sie war sich sicher, ja, sie konnte es beinahe körperlich fühlen, dass jemand sie beobachtete. Hinter ihr stand noch immer dieser Junge im Eulenkostüm. Und erneut überkam sie das seltsame Gefühl, dass sie … zusammengehörten. So wie er sie ansah, musste er … . Sie schüttelte heftig den Kopf. Nein, das bildete sie sich alles nur ein! Liebe auf den ersten Blick? Das war doch nur ein Märchen. Sie drehte sich entschlossen wieder um und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Sie stand vor einem älteren Jungen in Skelettkostüm an dessen Seite ein zweiter Junge stand. Beide musterten sie mit intensiven Blicken. Unwillkürlich schauerte Julia als sie in diese dunklen kalten Augen sah. Diese Typen konnten nur Ärger bedeuten. Hastig murmelte sie eine Entschuldigung und wollte sich schnellstens verdrücken, doch plötzlich wusste sie, dass sie dazu keine Chance haben würde. Wie ein Film legte sich das Bild seiner Faust vor ihre Augen, ohne jedoch ihren Blick auf das, was in dieser Sekunde tatsächlich vor ihr geschah zu trüben. Ohne zu überlegen, stellte sie ihr Colaglas auf dem Boden ab und blockte geschickt die Faust von Skelett mit der flachen Hand ab. Noch im selben Moment folgte sie dem seltsamen Phänomen, das sie bereits vor dem ersten Hieb gewarnt hatte, und wich mit einer fließenden Bewegung auch dem Schlag von “Skeletts” Kumpel aus, der ein unwahrscheinlich echt wirkendes Vampirkostüm trug. War das wirklich ein Kostüm? Oder war das tatsächlich ein Vampir? Mit einem letzten Blick auf ihre beiden Gegner hob sie ihr Glas wieder auf und tauchte in der Menge unter.

Bevor die beiden es begriffen hatten, war sie nicht mehr zu sehen. Die kostümierten Schlägertypen konnten sich nur noch verwirrt umsehen. “Verdammt, wo ist sie hin? Hinterher!” Sie zogen ihre Messer und stießen rücksichtslos jeden aus dem Weg, der ihnen in die Quere kam. Die Mädchen spritzten kreischend vor Angst auseinander, aber ein paar Jungen standen fluchend wieder auf und stellten sich nach einem kurzen Blickwechsel Vampir und Skelett in den Weg. “So nicht, Freunde! Das hier ist eine Party!” Als die beiden Schläger nicht reagierten schlug der größte von ihnen zu, aber Skelett fing den Hieb mühelos ab und setzte seine Faust genau in die Magengrube seines Gegners, der stöhnend wieder zu Boden sank. Skelett sah sich um. “Sie ist weg! Raus hier, hier finden wir sie nie wieder!” Sie steckten ihre Messer wieder ein und gingen wieder in Richtung Ausgang. Ängstlich machten ihnen alle Platz, nur der Junge im Eulenkostüm, der noch immer wie betäubt an der selben Stelle stand, an der Julia ihn gerade stehen gelassen hatte, wich nicht aus. Skelett stieß ihn zur Seite und er ruderte heftig mit den Armen. Noch gerade rechtzeitig gelang es ihm, das Gleichgewicht zurück zu erlangen. Nervös griff er nach etwas, das an einer Kette um seinen Hals hing und plötzlich straffte er sich. “Hey, was wollt ihr eigentlich von ihr?” Das klang mutiger als er sich eigentlich fühlte, aber er musste es wissen. Er wusste nicht warum, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass er und dieses Mädchen zusammengehörten. Er hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber das hier war etwas völlig Anderes als das, was er bisher unter Liebe verstanden hatte. Und dann: Wie sie gekämpft hatte! Als hätte sie vorher gewusst, was passieren würde. Er hatte bis jetzt nur einen gesehen, der so gekämpft hatte - seinen Großvater. Ob sie …? Nein, das konnte nicht sein. Der Träger war immer männlich gewesen … Skelett blieb stehen und drehte sich langsam zu ihm um. Er musste kurz schlucken, als er in diese kalten Augen sah, die ihn drohend anstarrten. Oh nein, jetzt hatte er sich in Schwierigkeiten gebracht. Dieser Blick verhieß nichts Gutes. Doch dann erinnerte er sich an das, was sein Großvater ihm vor Jahren beigebracht hatte, spannte seine Muskeln an und sah dem Typen selbstbewusst entgegen. Er war der Hüter San Tanadinas. Er würde nicht zurückweichen. “Das geht dich gar nichts an!” knurrte Skelett und seine Faust fuhr direkt in seine Magengrube. Er krümmte sich ein kleines bisschen, blieb aber auf den Füßen. “Jetzt schon!” grollte er und ballte die Fäuste. Er täuschte einen Schlag mit der rechten vor, den Skelett mühelos abfing, aber die Linke, die fand ihr Ziel. Skelett krümmte sich vor Schmerz und setzte ein Knie auf den Boden als er stöhnend seine Arme um seine Mitte schlang. “So, und jetzt noch mal, Freunde! Was wollt ihr von ihr?” fragte er mit ruhiger Stimme. Stöhnend antwortete Skelett: “Sie hat unserem Boss was gestohlen. Das sollen wir zurückholen.” Er runzelte die Stirn. Irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen. “Was hat sie denn gestohlen?” “Einen Dolch!” Das machte keinen Sinn. Etwas verwirrt fragte er nach. “Einen Dolch? Warum sollte sie einen Dolch stehlen?” Stöhnend kam Skelett wieder auf die Füße. “Frag sie das!” knirschte er und machte sich schnell aus dem Staub. Er sah ihnen verärgert nach. Frag sie das! Ja, wenn er sie wieder fand! Diese beiden Idioten hatten sie ja vertrieben.

Währenddessen hatte Julia ihre Cousine endlich gefunden. Sie stand inmitten einer ganzen Traube von jungen Leuten, die sich offenbar hervorragend amüsierten. “Hey, Julia! (Hick) Komm, trink noch Einen mit uns!” Angewidert sah Julia sich um und schnupperte. Alkohol! Sie hasste Alkohol - und das, was er dem Menschen antat. Merkten die denn wirklich alle nicht, dass sie sich völlig idiotisch benahmen? “Ah, nein, Becky, danke, aber ich glaube ich habe genug. Ich wollte gerade nach Hause gehen.” “Was jetzt schon? Es fängt doch gerade erst (Hick) an, so richtig lustig zu werden!” Julia schüttelte den Kopf. “Mag sein, Becky, aber ich muss - im Gegensatz zu dir - morgen noch mal zur Schule.” Becky sah ihre Cousine verständnislos an. “Schule? Du lieber … Himmel, Julia! Warum, zum Teufel, nimmst du das alles bloß so … genau? Jetzt vergess mal die Schule und trink noch einen mit uns!” Becky legte ihren Arm um Julias Schultern und versuchte ihr ein Glas in die Hand zu drücken, doch Julia wand sich geschickt aus ihrer Umarmung. “Nein, wirklich, Becky. Ich habe genug getrunken. Wenn ich auch nur noch ein winziges Schlückchen mehr trinke, kann ich nicht mehr geradeaus sehen.” Sie wandte sich zum Gehen. “Viel Spaß noch, Leute!” “Warum bist du bloß immer so verdammt …” Angestrengt suchte sie nach dem richtigen Wort. “… vernünftig?“ murmelte Becky beleidigt. Julia kümmerte sich jedoch nicht mehr weiter um sie und mischte sich wieder unter die Menge. Völlig in Gedanken kämpfte sie sich zum Ausgang durch, wo sie schon wieder mit jemandem zusammenstieß. Eine hastige Entschuldigung murmelnd sah sie auf - bereit sich zu wehren, falls sie schon wieder auf so einen Schlägertypen gestoßen sein sollte. Sie sah jedoch nur in das freundliche Gesicht eines Jungen dessen mandelförmige Augen seine asiatische Abstammung verrieten. Es war schon wieder der Junge im Eulenkostüm. “Ich glaube,” meinte er lächelnd, “du solltest besser aufpassen, wo du hinläufst.” Sie errötete leicht. “Da hast du wahrscheinlich Recht, aber ich wollte sowieso gerade gehen.” Schon wieder machte sich das seltsame Gefühl in ihr breit, dass sie und dieser Junge irgendwie zusammengehörten, aber sie ignorierte es weiter. Das konnte nur Einbildung sein. OK, er sah ja ganz nett aus, aber das reichte wohl kaum aus, um dieses seltsame Gefühl zu erklären. “Das ist aber schade! Ich wollte dich gerade zu einem Drink einladen.” Was für ein lahme Anmache! Glaubte dieser schräge Vogel wirklich, dass sie darauf reinfiel? Sie hatte nicht das geringst Interesse – weder an diesem Drink noch an dem Typen selbst. Sie sah sich angewidert in dem überfüllten Saal hinter ihr um und schüttelte den Kopf. “Ah, nein danke! Nicht hier und nicht jetzt. Vielleicht ein andermal!” Sagte sie in viel freundlicherem Tonfall, als sie vorgehabt hatte. Sie wollte sich an ihm vorbei drängen und weiter gehen, doch sie konnte nicht sagen, was sie davon abhielt es tun. Sie blieb verunsichert stehen.

Er nickte und musterte sie eingehend. Irgendetwas irritierte ihn an diesem Mädchen. Er hatte es vorhin schon gespürt, als sie das erste Mal zusammengestoßen waren. Es war beinahe, als würden sie zusammengehören, aber das konnte unmöglich sein. Er hatte sie in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Himmel, er hatte sein halbes Leben weit weg von seinen Eltern verbracht. Es war ihm noch immer ein Rätsel, warum sie ihn plötzlich nach Hause geholt hatten. “Ich verstehe. Offenbar fühlst du dich hier genauso wohl wie ich.” Sie sah ihn überrascht an, aber er zuckte nur mit den Schultern während er mit verächtlichen Blicken an ihr vorbei zu den zunehmend betrunkener werdenden Jugendlichen hinüber sah. “Eigentlich bin ich nur hier, damit ich meinen Eltern morgen erzählen kann, wie toll es war. Ich hasse solche Partys!” Sie lachte leise. “Es sieht tatsächlich so aus, als hätten wir da etwas gemeinsam. Ich bin nur hier, weil meine liebe Cousine mich mitgeschleppt hat - und jetzt steht sie da hinten irgendwo und lallt dummes Zeug.” Sie sah ihn an mit einem seltsam fragenden Gesichtsausdruck an und er hob seine Augebraue. Was sie jetzt wohl dachte? “Ich möchte wissen, wie viele von diesen Gestalten hier morgen die Schule schwänzen.” Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Das war sicher nicht das, woran sie gerade gedacht hatte. Er sah sich noch einmal um bevor er sie wieder interessiert musterte. Für ein Mädchen, das so schüchtern aussah, hatte sie erstaunlich sarkastisch geklungen. Das hätte er ihr auf den ersten Blick gar nicht zugetraut. “Ah, nein, das möchte ich, glaube ich, lieber nicht wissen.” erwiderte er ebenso sarkastisch und plötzlich lächelte sie ihn an. Unglaublich was ein einzelnes Lächeln bewirken konnte! Plötzlich war es für ihn überhaupt nicht mehr wichtig zu wissen, ob sie gestohlen hatte oder nicht. Plötzlich wollte er nichts anderes mehr, als dieses Mädchen in seine Arme zu schließen und nie wieder los zu lassen. “Naja, ich gehe dann mal. Man sieht sich!” Sie ging weiter und winkte ihm lächelnd zu. Er öffnete den Mund, aber er brachte kein Wort heraus. So ein Mist, jetzt hatte er alles vermasselt. Es wäre ein Wunder, wenn er sie jetzt noch mal treffen würde. Er wusste ja nicht einmal ihren Namen! Wenn er sie so finden wollte, war es gerade so, als ob er die berühmte Nadel im Heuhaufen suchen wollte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 28, 2012 ⏰

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