Jinei-Academy

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Athena:

Mein erster Eindruck von der Jinei-Academy: Eiskalt. Allein die Tatsache, dass man aus einem Flugzeug springen muss, um die Academy zu erreichen, war schon seltsam genug. Aber die Jinei-Academy war schließlich nicht nur irgendeine Schule. Das dreieckige, schwarze Gebäude mit dem gleichförmigen Innenhof krallte sich an einen steilen Berghang im Himalaya, irgendwo zwischen Tibet und China und ist nur über den Luftweg zu erreichen. Die Academy ist für besondere Kinder. Kinder, die eigentlich nicht existieren durften. Kinder von Agenten, Politikern, Geheimnisträgern, Widerstandskämpfern und politisch Verfolgten. Kinder, die ihre Elternteile in unangenehme Lagen bringen könnten, wenn man sie angreifen würde. Kinder, die so hochbrisant und gefährdet sind, dass nicht einmal eine Armee an Leibwächtern reicht, um sie zu schützen. An der Academy lernen sie, unsichtbar und unangreifbar zu werden. Von Kämpfen bis zum Pässe fälschen bringt man ihnen alles bei, damit sie sich im Notfall unerkannt allein durchschlagen können. Auch ich komme aus diesem Grund hierher, auch ich bin ein Schattenkind. Ein Kind, von dessen Existenz nur wenige Leute wissen und das sich sein ganzen Leben verstecken muss. Als illegitime Tochter eines hochrangigen Mitglieds der CIA ist es praktisch meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass ich verschwinde, sodass mein Vater sich nie mehr mit mir rumschlagen muss. So wie mir ergeht es vielen Schattenkindern. Erst werden wir ignoriert, dann in diese Academy abgeschoben. Wir teilen alle das gleiche Schicksal.

Als die Tür hinter mir zufiel und die beißende Kälte aussperrte, seufzte ich erleichtert. Ich folgte dem Mann in der dicken Winterjacke in ein großes, holzvertäfeltes Büro. Durch die Glaswand auf der linken Seite konnte man ungehindert die rauen, verschneiten Berghänge des Himalayas betrachten. Der Mann hängte seinen Mantel auf und setzte sich an einen großen Eichentisch, auf dem ein goldenes Schild mit dem Namen „Vance" glänzte. Hinter dem Schreibtisch an der Wand hingen das Wappen und das Motto der Academy. Ein brennender Phönix unter einem Band mit den Worten „secretus, invisibilis, sanctus" - geheim, unsichtbar, unantastbar. Ein Seufzen lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann hinter dem Schreibtisch. Direktor Vance war ein riesiger, muskelbepackter Afroamerikaner mit Bürstenhaarschnitt, kantigem Kiefer, breiten Schultern und buschigen Augenbrauen, sodass es aussah, als würde er ständig verärgert die Stirn runzeln. Angeblich war er früher bei den Navy Seals gewesen. Seine braunen Augen wanderten über die Akte, die vor ihm lag, wahrscheinlich waren es meine Personalien.

„Miss Maroon, ich hatte Sie früher erwartet.", Ärger schwang in seiner tiefen, dunklen Stimme mit.

„Es tut mir leid, Sir, aber der Pilot wollte aufgrund des schlechten Wetters erst nicht fliegen", antwortete ich.

„Wie haben Sie ihn dazu gekriegt, doch noch zu fliegen?", fragte Vance, ohne die Augen von der Akte vor sich zu nehmen.

„Ich hab ihn überzeugt, es doch zu tun", lächelte ich. Es hatte nur einen einzigen Handgriff gebraucht, um den Mann dazu zu bringen, mich an mein Ziel zu fliegen.

Ein Blick unter buschigen Augenbrauen in meine Richtung, dann zerriss ein strahlendes Lächeln die harte Maske des Mannes vor mir, und ich erkannte, dass Direktor Vance eigentlich gar nicht so streng war.

„Genauso, wie ich es von Ihnen erwartet hätte, Miss Maroon.", grinste er breit und ich lächelte zurück.

„Da Sie ein Schattenkind sind, muss ich Ihre Formalien nochmal überprüfen. Wenn Sie mich jetzt anlügen, werden Sie es bereuen.", drohte er mir, der lächelnde Mann war verschwunden, an seine Stelle war wieder der Soldat getreten.

„Natürlich, Sir."

Die nächste halbe Stunde verging mit Fragen über meine Person. Vollständiger Name, Geburtsdatum und -ort, Größe, Gewicht, andere körperliche Merkmale und so weiter. Nach jede meiner Antworten kam die Frage „Gibt es Beweise?", denn je weniger Beweise es für meine Existenz gab, desto leichter konnte ich, im Notfall, untertauchen.

Schließlich gab mir Direktor Vance einen Schlüssel, meinen Stundenplan und eine Wegbeschreibung zu den wichtigsten Orten dieser Schule. Ich schnappte mir mein Zeug, verabschiedete mich und ging. Die Flure waren menschenleer und nur notdürftig beleuchtet, aber schließlich fand ich den Mädchentrakt und mein Zimmer. Vier weiße Wände, ein kleines Fenster, Schreibtisch, Bett, Schrank, eine Waschecke und fünf Steckdosen. Die Einrichtung spärlich zu nennen, wäre noch untertrieben. Aber solange es wetterfest war, war mir das sowieso egal. Ich stellte meinen Wecker, fiel ins Bett und schlief sofort ein.

Wie immer schlug ich meine Augen auf, fünf Minuten, bevor der Wecker klingelte. Etwas steif stieg ich aus dem Bett, der Fallschirmsprung von gestern machte mir noch zu schaffen. Ein paar Liegestütze später war ich richtig wach, also wusch ich mich und zog die Schuluniform an, die, in Folie eingeschweißt, auf meinen Schreibtisch lag. Schwarze Hose, weißes Hemd, rote Krawatte und eine schwarze Jacke mit weißen Akzenten. Nicht sehr feminin, aber in Ordnung. In dem Moment ertönte ein Gong und ich hörte, wie auf dem Flur Türen geschlagen wurden. Anscheinend gab es jetzt Frühstück, also reihte ich mich in den Strom ein und ließ mich mitreißen.

Eine dreiviertel Stunde später stand ich wieder in meinem Zimmer, packte meine Tasche und machte mich auf den Weg zu meinem Klassenraum. Mein Leben an der Jinei-Academy hatte begonnen.

Shadow Children - PrisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt