Geschmolzenes Eis

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Athena:

Enttäuscht und wütend auf mich selbst wickelte ich die Bandagen ab. Ich hatte mich doch tatsächlich von diesem Jungen weichklopfen lassen! Verdammt nochmal, wie konnte das den passieren? Ich schüttelte den Kopf und versuchte ihn freizubekommen. Denk rational und logisch. Gehe das Ganze geplant an. Wer war dieser Junge überhaupt? Ich schmunzelte.

Ryan Fieldings. Groß, muskulös, breite Schultern, schmale Hüften, blonde, zerzauste Haare, dunkelgrüne Augen und ein Lächeln, welches die Mädchen reihenweise zum Dahinschmelzen brachte. Ein echter Sunnyboy eben. Aber das war alles nur Fassade. Ich erkannte eine zerrüttete und verängstigte Seele, wenn ich eine sah.

Ein zynisches Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Schließlich war ich ja selbst eine. Ich hatte schnell erkannt, dass er sich hinter seinem Image versteckte. Jedes Mal, wenn er nicht aufpasste, verrutsche seine Maske ein wenig und gab sein wahres Ich preis, bevor er es selbst bemerkte und es wieder versteckte. Es waren immer nur wenige Sekunden, aber ich hatte es dennoch bemerkt. Ryans Schauspiel war gut, aber es war nicht perfekt. Vielleicht war es hart von mir gewesen, seine Fassade vor der Klasse mit Gewalt einzureißen, aber damals war es eh nur ein Schuss ins Blaue gewesen. Das ich einen schmerzhaften Volltreffer gelandet hatte, verstand ich erst ein paar Tage später, als ich ihn beobachtete. Mittlerweile tat es mir leid; ich wusste selbst, wie es war, wenn jemand einfach so sein eigenes wahres Ich entblößt, welches man mit aller Kraft zu verstecken versuchte, aber ich konnte mich nicht entschuldigen, so sehr ich es auch bereute. Eine Entschuldigung ist ein Zeichen von Schwäche. Und Schwäche war für jemanden wie mich tödlich. Außerdem war ich an die Jinei-Academy gekommen, um zu lernen, allein zu überleben und nicht, um soziale Kontakte zu knüpfen. Kinder, wie wir sind Einzelkämpfer. Freunde bedeuten möglichen Verrat und es fällt einem schwerer, weiterzuziehen. Dabei ist es überlebensnotwendig, nie lange an einem Ort zu bleiben, damit man den Verfolgern entfliehen kann.

Als ich merkte, wie meine Gedanken abschweiften, schüttelte ich den Kopf und konzentrierte mich wieder auf Ryan Fieldings. Nach der Sache vor der Klasse, hatte ich das Gefühl, er plant etwas. Er war mir den ganzen Tag nicht von der Seite gewichen, selbst in der Mensa beobachtete er mich. Es war gruselig und es beunruhigte mich. Er spähte mich aus und das gefiel mir ganz und gar nicht. Dazu hatte er mich irgendwie weichgekriegt, als wir über das Tattoo sprachen. Wie hat er das nur gemacht? Ich musste aufpassen, denn ich spürte, dass etwas los war. Ryan Fieldings würde nie wieder hinter meine Maske blicken, das schwor ich mir. Ich würde meinen Panzer verstärken und seine Versuche, mich weich zu kriegen, würden daran abprallen, wie Pfeile an einer mittelalterlichen Burgmauer.

Shadow Children - PrisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt