53 kg, 07. August
„Happy Birthday to you..", verwirrt blinzelte ich und öffnete dann die Augen. Meine Familie stand in meinem Zimmer, grinste mich an und sang mir ein Ständchen. Als sie fertig waren stürmten alle außer meiner Mum auf mich zu und umarmten mich überschwänglich. Mein Dad machte ein paar Bilder von mir, Elena und Tessa, währenddessen zündete Mum die Kerzen, die eine 17 ergaben an und brachte mir den traditionellen Schokokuchen, den es seit ich denken konnte an meinem Geburtstag gab, ans Bett. Sie ließ sich auf der Bettkante nieder und drückte mir einen Kuss auf die Stirn: „Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz." „Danke, Mama.", ich lächelte. „Und jetzt wünsch dir was!", sie hielt mir die brennenden Kerzen vor's Gesicht und ich schloss meine Augen. Gedanklich formulierte ich meinen Wunsch, dann pustete ich die Kerzen alle auf einmal aus und meine Familie applaudierte. Im Nachhinein hätte ich mir besser etwas anderes gewünscht. Etwas, was mein Leben nicht zerstört hätte.Nachdem meine Familie mein Zimmer wieder verlassen hatte und mich in einer Viertelstunde unten erwartete, war ich aufgestanden und hatte meinen Pyjama ausgezogen. Wie jeden Morgen betrachtete ich mich kritisch im Spiegel und drehte mich umher, um mich von allen Seiten zu betrachten. Mittlerweile sah man deutliche Unterschiede. Besonders auf den Vergleichsfotos von vor ein paar Wochen, wo ich noch ein paar Kilo mehr gewogen hatte, sah man, wie ich langsam dünner wurde.
Nun war es Zeit, auf die Waage zu gehen. Ich hatte gestern Abend extra dafür gesorgt, dass ich nichts mehr essen musste, so hatte ich nun schon seit über 16 Stunden nichts mehr zu mir genommen. Es konnte nur positiv auf der Waage sein, versicherte ich mir. Ich atmete einmal tief ein, dann trat ich auf das Gerät, was in den letzten Wochen immer entscheidender für meine Tagesstimmung geworden war. Mein Herz pochte während die Waage mein Gewicht ausmachte. 52,8 kg! Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Nur noch 2,8 kg bis zur 50! Und dann würde auch bald schon eine 4 vorne stehen.. so wenig hatte ich das letzte Mal vor 5 Jahren gewogen.
Daraufhin öffnete ich meinen Kleiderschrank und zog einen Bh aus einer Schublade, welchen ich anzog. Dabei fiel mir wieder einmal auf, dass meine Brüste mittlerweile die Körbchen gar nicht mehr ausfüllten. Und wann hatte ich eigentlich das letzte Mal meine Tage gehabt? Mir fiel es beim besten Willen nicht mehr ein. Doch ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich mir wann anders darüber Gedanken machen musste. Schnell schlüpfte ich in eine schwarze Hose, die ich schon länger nicht mehr an hatte und war überrascht, als ich feststellte, dass ich einen Gürtel benötigte. Darüber zog ich eine Bluse. Auch die hatte schon mal enger gesessen. Das alles waren nur Zeichen meines Erfolgs, sagte ich mir. Daraufhin machte ich mich auf den Weg nach unten.
Meine Familie hatte ein riesen Frühstück gezaubert und sogar an jedem Platz, außer dem meiner 7 Jahre alten Schwester Tessa, Sektgläser verteilt. Auch wenn ich bei der Menge an Essen am Liebsten auf der Stelle kehrtmachen würde, verbot ich es mir. Heute war mein Geburtstag und ich hatte mir einen Tag ohne Kalorienzählen verdient! Als meine Mum mich bemerkte, beäugte sie mich kurz und ich glaubte, einen Anflug von Sorge in ihrem Blick zu bemerken. Doch dann lächelte sie mich herzlich an: „Du siehst hübsch aus, Liebes. Setz dich doch." Ich dankte ihr und ließ mich dann auf meinem Stammplatz gegenüber meiner 2 Jahre älteren Schwester Elena nieder. „Meine kleine Schwester ist schon 17. Krass.", sie schmunzelte und stahl sich einer der Trauben, die auf dem Tisch standen. Beim Anblick der Trauben knurrte mein Magen und ich wiederholte in meinem Kopf die Worte „Heute ist dein Tag. Heute darfst du essen. Es wird deinen Erfolg der letzten Wochen nicht zerstören." Entschlossen griff ich ebenfalls nach einer Traube und steckte sie mir in den Mund. Der süßliche Geschmack bereitete mir aber keine Freude, im Gegenteil. Sofort breitete sich das schlechte Gewissen aus: Die Traube hättest du dir jetzt auch sparen können. Du wirst heute noch genug unnötige Kalorien zu dir nehmen. Ich wollte die Gedanken vertreiben, also schluckte ich die Traube schnellstmöglich runter, bekam sie aber in die Luftröhre. Sofort überkam mich ein Hustenanfall, welcher mir Tränen in die Augen trieb. Elena sprang auf, hechtete um den Tisch und klopfte mir auf den Rücken, bis ich die Traube wieder ausgehustet hatte. „Danke.", krächzte ich und holte ein paar Mal tief Luft. Meine Schwester strich mir beruhigend über den Rücken: „ Kein Ding, grade heute solltest du nicht ersticken. Sag mal, kann es sein, dass du abgenommen hast? Ich hab mich das in letzter Zeit öfter gefragt und jetzt spüre ich hier voll deine Wirbel durch." Demonstrativ strich sie nochmal über meinen Rücken. „Eigentlich nicht und wenn, dann zumindest nicht absichtlich.", winkte ich ab. „Was war denn hier los?", fragte mein Dad, welcher mit einer Pfanne voll Rührei an den Tisch kam. „Livy wäre nur fast erstickt.", erklärte meine Schwester und ließ sich wieder an ihrem Platz nieder. „Na wenn's sonst nichts ist.", erwiderte mein Dad lachend und verteilte auf jedem Teller eine Portion Rührei.
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Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosa
Teen Fiction„Du müsstest jemanden sehr hassen, um ihn verhungern zu lassen." Sein Blick traf mich so plötzlich und brannte sich so tief in mein Gedächtnis ein, sodass ich nicht anders konnte, als ihm auszuweichen und auf den Boden zu starren. Schon wieder brann...