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„Justin! Juuuuustiiiin!" meine Schreie werden nun mehr ein Flüstern. Mein Hals brennt und die Angst schnürt mir Herz und Kehle zu. Wo ist er? Wo zum Kuckuck ist mein kleiner Bruder? Eben waren wir noch auf dem Spielplatz und jetzt ist er weg. Einfach weg. Was sage ich Mama wenn sie nach Hause kommt? Falls sie nach Hause kommt? Ich wische mir gerade die Tränen weg um besser sehen zu können als mich eine Hand am Kragen packt und festhält. Es ist ein Cop und mir schlottern automatisch die Knie. „Na, Kleiner? Was machst du denn mitten in der Nacht so mutterseelenallein hier auf der Straße?" Fragt er mich und ich fange an zu weinen. „Justin ist weg! Ich muss ihn suchen." sage ich ehrlich. Der Cop kniet sich zu mir herunter und schaut mir jetzt in die Augen. Seine schwere Hand ruht noch auf meiner Schulter. „Wer ist denn dieser Justin?" fragt er und ich fange an zu zittern. Ich hoffe er sperrt mich nicht gleich ins Gefängnis weil ich nicht auf meinen Bruder aufgepasst habe. „Mein kleiner Bruder." gebe ich zu und schaue auf den Boden. Bestimmt schimpft er gleich ganz doll mit mir und verhaut mich so wie es eigentlich immer alle erwachsenen Männer machen die ich kenne. „Wo wohnst du?" fragt der Cop freundlich. Ich nenne ihm meine Adresse und er bringt mich dort hin. Er schellt aber niemand macht auf. „Justin ist nicht da!" sage ich und merke wie sich mein Gesicht verkrampft. Ich will aber nicht weinen. Ich blinzle ein paar mal um die Tränen zu verjagen. Der Cop befragt mich wann ich Justin das letzte Mal gesehen hätte. Ich erkläre ihm dass ich mit ihm heute morgen zum Spielplatz gegangen bin und dass ich ihn nicht mehr gefunden habe als ich ihn zum Mittagessen nach Hause nehmen wollte. „Was gab es denn zum Essen?" fragt der Cop. „Wir haben noch Toast und ich habe von Frau Meyer ein Glas Marmelade geschenkt bekommen." verrate ich dem Mann. Der schmunzelt und fragt: „Was hätte denn deine Mama gekocht?" Ich weiß nicht was der Cop meint und schaue ihn verwirrt an. Der seufzt und ruft mit seinem Funkgerät Verstärkung. Die Männer suchen den Spielplatz ab wo Justin und ich heute morgen gespielt haben. Ich stehe an einer Laterne und halte mich an ihr fest. Obwohl es Sommer ist friere ich weil ich so Angst um meinen Bruder habe. Dann höre ich aufgeregtes Rufen und ich renne erleichtert in die Richtung außer die Rufe kommen. Doch einer der Männer hält mich auf. „Stop Kleiner. Da ist nichts was du sehen möchtest." sagt er und dreht mich um. Stumm gehe ich wieder zu der Laterne. Ich umarme sie jetzt ganz fest weil ich Angst habe sonst umzukippen so sehr zittern meine Beine. Angestrengt schaue ich in die Nacht. Es kommen noch mehr Autos an und ich höre aufgeregte Stimmen die sagen dass man der Mutter Bescheid geben müsste. Es kommen zwei bedrohlich aussehende Männer zu mir die mich nach dem Namen und der Telefonnummer von meiner Mama fragen. Den Namen kann ich Ihnen nennen ‚Julie Spencer'. Aber die Telefonnummer nützt ihnen nichts. Unser Telefon habe ich nämlich in der Tasche. Wir haben ein altes Smartphone das einer der Freunde meiner Mama uns überlassen hat. Ich hüte es wie einen Schatz weil ich damit spielen kann und ins Internet komme. Mit Hilfe von Google Maps kann ich auch überall hin gehen und finde immer wieder nach Hause. So habe ich auch meine neue Schule gefunden. Ich habe mir meine weiterführende Schule nämlich selbst raus gesucht.
Die Beamten versuchen Mama anzurufen aber ich habe das Telefon schnell ausgeschaltet. Sie gehen wieder in unsere Wohnung und zum Glück ist Mama jetzt da. Sie ist nicht ganz nüchtern aber zum Glück auch nicht komplett weggedröhnt. Die Männer erklären meiner Mutter was passiert ist und sie fängt hysterisch an zu weinen. Ich weiß dass ich an Ihrem Kummer schuld bin und ich verstecke mich auf der Matratze in meinem Zimmer. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und versuche die Worte zu vergessen die der Cop gerade meiner Mama gesagt hat: „Es tut mir leid dass ich ihnen mitteilen muss dass wir ihren Sohn Justin gerade tot aus dem Bach hinter dem Spielplatz geborgen haben."
Diesen Satz höre ich immer und immer wieder. Ganz automatisch hole ich mein Smartphone aus der Tasche und gebe ‚gestorbene Kinder' ein. Ich will wissen wo Justin jetzt ist. Es ploppen ein paar Seiten auf und eine Seite für ‚verwaiste Eltern' fällt mir ins Auge. Es ist ein Forum für Eltern die ein Kind verloren haben. Unser Justin ist ja auch tot! Denke ich und melde mich da an. Ich lese mir ein paar Beiträge durch und bleibe an einem hängen der in ganz schlechten Englisch geschrieben ist. „Mein Bruder stirbt gestern." steht da und „Ich nicht weiß wo ich ihn jetzt suchen. Ich will finden. Bitte dich melden." Ich antworte auf den Post: „Hallo! Mein Bruder ist auch gestern gestorben. Sie haben ihn eben gefunden. Er ist ertrunken. Ich würde auch gerne wissen wo er jetzt ist." sofort bekomme ich eine Antwort: „Mein Bruder erschossen. Ich daneben, könnte nix tun. Ich Trauer" ich schreibe mir die ganze Nacht und den halben Tag mit dem Fremden Kind. Irgendwann sagt uns ein Admin dass wir im falschen Forum unterwegs seien. Hier sei die Seite für die Eltern, nicht für die Geschwister. Ich schicke dem Kind noch meine Handy Nummer und meine e-mail Adresse und kurze Zeit später schreibt er mir eine Mail. Ich bin ein bisschen glücklich weil der Junge sich ein bisschen wie Justin anfühlt. Weil er so lustig schreibt. Justin hat nämlich auch sehr lustig gesprochen. Er war ja auch erst fünf.
Ich finde im Laufe der Tage raus dass mein Gegenüber gar nicht Painajainen heißt wie er im Forum angegeben hat. Er heißt Dain und ist ein Mädchen. Aber das ist egal. Er ist trotzdem mein Brudi. Er versteht wie traurig ich bin und wie allein ich mich fühle.

Colin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt