Erzählung 110

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Am nächsten Tag ging es mir nicht besser. Wie auch. Es hatte sich ja nichts geändert. In den ersten Minuten nachdem ich aufgewacht war hatte ich gehofft es war alles nur ein böser Traum und ich würde in meinem Bett liegen neben meiner wunderbaren Frau. Doch irgendwann musste ich meine Augen öffnen und feststellen, dass es leider kein Traum gewesen war und ich mich nicht zuhause, sondern in Evas Haus befand. Wieder rollten einzelne Tränen über meine Wangen und ich rollte mich zusammen. Ich machte mich klein und versteckte mich unter der Decke vor der Welt wie ein kleines Kind. Ich wollte das alles nicht wahrhaben. Ich wollte nicht in diese kaputte Welt gehören und kurz überlegte ich ob es nicht vielleicht besser wäre sie zu verlassen und zu meinem Bruder und meinem Vater zu gehen. Dort würde ich keine Sorgen mehr haben. Aber konnte ich das meiner Mutter und vor allem meinen Kindern antun? Nein. Dafür liebte ich sie zu sehr. Es war für sie bestimmt schon schwer genug zu verstehen warum ich momentan nicht daheim war. Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war als die Tränen versiegten und ich mich dazu durchringen konnte aufzustehen. Im Bad machte ich mich schnell etwas frisch und ging dann nach unten. Im Wohnzimmer fand ich niemanden, die Kellertür hatte ich wieder gekonnt ignoriert, und folgte daraufhin ein paar Geräuschen. Ich gelangte in eine Küche, in der Eva gerade neben der Spüle stand und eine Tasse mit Kaffee füllte. „Hey", begrüßte ich sie. Sie erwiderte und fragte mich, ob ich Kaffee wollte. Ich bejahte und sie füllte eine zweite Tasse, die schon bereit stand, mit dem schwarzen Lebenselixier. Wobei ich bezweifelte, dass es in mir irgendwas zum Leben erwecken würde. Ich fühlte mich wie tot, doch ich war es nicht im Gegensatz zu... Chris. Ich schluckte trocken und nahm die Tasse entgegen. Diesmal achtete ich darauf mir nicht die Hände zu verbrennen. Ich pustete gegen die heiße Flüssigkeit und nippte kurz an ihr. Ich dachte wieder an Mama und beschloss sie heute anzurufen. Da fiel mir auf das ich mein Handy gar nicht dabei hatte. „Eva? Weißt du wo mein Handy ist?" „Ja. Das ist beim Unfall wohl kaputt gegangen. Zumindest hattest du keins dabei, als ihr herkamt." „Oh." „Wieso? Willst du jemanden anrufen?" Ich nickte und nippte erneut am Kaffee. „Ja meine Mutter. Ich muss ihr sagen was mit Chris passiert ist." „Bist du dir sicher? Ich meine das ist keine Nachricht, die man mal einfach übers Handy erzählt." Besorgt musterte sie mich. „Ich weiß", seufzte ich, „aber wer weiß wann ich hier wegkomme um es ihr persönlich zu sagen. Und ewig warten möchte ich auch nicht." „Ich weiß nicht", meinte Eva. „Bitte." Eva seufzte laut, stellte ihre Tasse ab und griff in ihre Hosentasche. Dann streckte sie mir ihre Hand mit ihrem Handy entgegen. „Danke." Ich wählte Mamas Nummer und es tutete. Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals. Ich war mega nervös. Vielleicht sogar zu nervös dafür, dass ich ihr „nur" eine Nachricht überbrachte. Doch wer konnte schon sagen wie nervös man sein durfte, wenn man seiner Mutter sagen musste, dass der kleine Bruder gestorben war. Fünf Mal hörte ich das Freizeichen, dann klickte es und ich hörte die Stimme, die mir so vertraut war und die mich so oft beruhigt hatte. „Reinelt? Wer ist da?" Ich hatte einen mächtigen Kloß im Hals und brachte keinen Ton heraus. Es war als würde ich ihre Stimme zum ersten Mal seit Monaten hören. „Hallo? Ist da jemand?" Ich befürchtete schon sie würde auflegen, räusperte mich und sagte leise: „Mama?" Stille am anderen Ende der Leitung. „Mama? Bist du noch da?" „A...Andreas? Bist das du?" Ja ich bins." „Oh mein Gott. Andreas! Wo bist du? Wie geht es dir? Weißt du was für Sorgen wir uns alle gemacht haben? Was ist..." Ich unterbrach sie. „Mama. Ich... Ich muss dir was sagen." „Was ist los mein Junge?" „Chris... er... also er..." „Was ist mit ihm Andreas?" „Er... Er ist tot." Wieder Stille, dann ein Schluchzen. Als meine Mutter sprach hörte sich ihre Stimme zittrig und schwach an. „Wie... Wann..." Mein Blick fiel auf Eva, die mich genau beobachtete. Ich wäre lieber allein gewesen, doch ich wollte auch nicht einfach rauslaufen. Immerhin war das hier Evas Handy. „Das erzähle ich dir, wenn wir uns wiedersehen." „Aber..." „Ich komme so schnell ich kann", unterbrach ich sie. „Aber was..." „Ich muss aufhören. Bis bald Mama." Und bevor sie noch etwas erwidern konnte legte ich auf und reichte Eva ihr Handy. „Danke." „Gerne. Wie hat sie es aufgenommen?" „Ich weiß nicht. Sie hat mich erst mit Fragen überhäuft und als ich es ihr dann gesagt habe war sie still und geschockt und wollte wissen wann und wie er gestorben ist. Aber das konnte ich ihr nicht sagen." Eva nickte betrübt und wir tranken schweigend unseren Kaffee.

Die nächsten Tage waren ruhig. Ich war oft in dem Zimmer in dem Eva mich untergebracht hatte und hing meinen Gedanken nach. Die meiste Zeit ging ich die schönsten Erinnerungen mit und an meinen Bruder durch, doch manchmal versuchte ich auch verzweifelt mich an die letzten Monate zu erinnern. Doch je mehr ich es versuchte, desto tiefer schienen sie in meinem Hirn zu verschwinden. Zwischendurch saß ich mit Eva zusammen und wir redeten über Chris. Sie erzählte mir Geschichten aus ihrer Schulzeit mit ihm, von denen er uns nie berichtete hatte und ich erzählte ihr Geschichten aus unserer Kindheit. Es war schön sich so an ihn zu erinnern. Ich mochte Eva und ich hoffte wir würden den Kontakt halten, wenn ich von hier wegging. Nach ungefähr zwei Wochen begann es dann plötzlich zu tauen. Langsam wurde die Schneedecke immer weniger und die Wege wieder befahrbar. Und ich musste gestehen, dass ich zwischendurch sogar daran gedacht hatte einfach hier zu bleiben. Eva hatte mir gut durch die schwere Zeit geholfen und war eine gute Freundin geworden, doch ich vermisste auch meine Familie. Und irgendwann war es dann soweit, dass ich Eva darum bat mich nach Hause zu fahren.


Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt