DIE SILBERNE BROSCHE

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Erwartungsvoll sah sie sie an. Das Päckchen lag immernoch ruhig in ihren Händen. Komm nimm schon, sagte sie. Miriam ertastete das kleine mit Schleifenband verzierte Päckchen in den Händen ihrer besten Freundin. Von der Vorfreude gepackt zog sie an den beiden Enden der hübsch hergerichteten Schleife. Als sie das Geschenkpapier löste vernahm sie ein reißendes Geräusch. Es löste bei ihr nur noch mehr Gefühle von Vorfreude aus. Als das Geschenkpapier komplett entfernt war, fühlte sie eine kleine Schatulle. Sie war mit weichem Samt bezogen. In ihr befand sich etwas Seltsames. Sie konnte es nicht sofort erkennen und tastete erstmal eine Weile das kleine Etwas in ihren Händen ab. "Es ist eine Brosche. Sie hat ganz viele Verschnörkelungen. Wahrscheinlich kannst du sie deshalb nicht erkennen. In der Mitte ist ein kleiner glänzender Edelstein. Er ist silbern, genau wie der Rest der Brosche. Als ich die gesehen habe , dachte ich, sie könnte dir stehen. Soll ich sie dir anstecken? " Eine Brosche also! Miriam freute sich über das Geschenk ihrer besten Freundin, doch war sie auch ein wenig enttäuscht. Bestimmt ist sie wunderschön, dachte sie sich. Noch nie wollte sie so sehr sehen können, wie in diesem Moment. Sie sehnte sich schon immer danach, die Welt mit ihren Ecken und Kanten zu SEHEN, aber noch nie war das Verlangen so groß wie in diesem Moment. Lynn würde morgen für ein Jahr die Stadt verlassen und dann wäre Miriam ganz alleine, denn keiner außer ihrer besten Freundin konnte mit ihrem Handycap umgehen. Alle waren unsicher und wollten lieber keine so feste Bindung zu ihr haben. Und diese Brosche, die sie nicht sehen konnte, war nun sozusagen ein Abschiedsgeschenk. Sie konnte sie nicht einmal richtig erfühlen. Sie hatte wahrscheinlich einfach zu viele Verschnörkelungen. "Warum weinst du?" unterbrach Lynn ihre Gedanken. "Gefällt sie dir nicht?" Erst jetzt erkannte Miriam, dass ihr ein paar Tränen über die Wangen liefen. Sie waren warm und fühlten sich ein bisschen wie Blut an. Wie das in ihrem Inneren. Ihr Herz blutete. Es hatte ein paar Risse mehr bekommen. Plötzlich merkte sie ein Rascheln und im nächsten Moment fühlte sie die ihr allzu bekannten Arme, die sich um ihren Körper legten. So verharrten die Beiden eine Weile, bis Lynn Miriam fragte:"Warum weinst du? Ich kann die Brosche auch wieder zurückbringen. Kein Problem." "Ich kann sie nicht erkennen. Sie hat glaube ich zu viele Verschnörkelungen. Bestimmt ist sie wunderschön, aber na ja..."
Da fiel Lynn etwas auf. In den Rillen der Brosche waren ein paar Krümel. Ruckartig stand sie auf und lief ins Bad um die Krümel auszuwaschen. Somit ließ sie Miriam ahnungslos und alleine auf dem Bett sitzen. Miriam fragte sich, was ihre beste Freundin jetzt tat, doch sie blieb stumm. Lynn hatte die Brosche mitgenommen und war in Richtung Bad gelaufen. Das hatte sie gehört. Als sie zurück kam, drückte sie ihr die Brosche in die Hand und wie durch ein Wunder konnte Miriam die Brosche mit all ihren Verschnörkelungen fühlen. Als würde jemand ihr Herz mit Pflastern versehen. "Wie hast du das gemacht?" fragte sie nun in die Stille hinein. Lynn erklärte es ihr und Miriam grinste noch mehr, sodass ihre Mundwinkel fast ihre Ohren berührten. Sie weinte vor Freude und umarmte ihre beste Freundin nocheinmal. Und beide vergaßen, dass sie sich schon in kurzer Zeit für ein Jahr lang trennen mussten. Doch dann flog die Tür auf und die Stimme von Lynn's Mutter ertönte. "Schätzchen, wir gehen jetzt. Wir dürfen unseren Flug nicht verpassen." Und damit wurden alle Pflaster ruckartig und schmerzend abgerissen und ihr Herz zerbrach...

Die untastbare BroscheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt