Geflügelt

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Prolog

„Anmutig und schön, wie Götter gleiten sie über den Horizont. Hinterlassen nur eine Spur aus kleinem, glitzerndem Staub, der sich funkelnd morgens als Reif auf die Dächer und Straßen der Stadt legt.

Die Nacht ist vorüber und der Tag beginnt.

Kurz vor dem ersten Sonnenstrahl setzten die Engel sich ab und werden wieder zu Menschen.

Sie lassen ihre federnden Flügel verschwinden und ersetzen sie durch straffe, nie alternde Haut.

Als menschlich getarnt wandern sie Tagsüber durch unsere Straßen und versuchen sich so unauffällig zu verhalten, wie es ihnen möglich ist.

Niemand ist in der Lage, sie in ihrer Zeit als menschliche Gestalt zu enttarnen.

Doch es gibt eine bestimmte Rasse von Mensch, die den Unterschied spüren können.

Weil die Engel sich aber von ihnen bedroht und angegriffen fühlten, fingen sie an Jagt auf sie zu machen und sie zu töten.

Aus Angst, dass ihre Gabe ausstirbt, wenn sie nichts unternehmen verbündeten sich diese Menschen und flüchteten an einem, unbekannten, unauffindbaren Ort um dort in Frieden mit anderen ihrer Art leben zu können.

Seit diesem Tage, an dem die Menschen vor den Engel flüchteten, heißt es, dass die Geflügelten nachts über die Dächer jedes Hauses, in dem ein Kind geboren wird, fliegen und nach dem einen verbliebenen Menschen zu suchen, der den Weg kennt. Den Weg zu der verborgenen Stadt.“

Die alte Frau streicht ihrer sechsjährigen Engeltochter über die blonden Locken und klappt das alte Buch zu.

„Aber Omi. Das Buch ist doch noch gar nicht zu Ende!“, quengelt sie und strampelt unter der Decke ungeduldig mit den kleinen Füßen.

Die Großmutter lacht und legt dem kleinen Mädchen eine ihrer knochigen Hände auf die Wange und sagt: „Schätzchen, es ist noch lange nicht zu Ende. Aber es ist schon spät und ein Mädchen in deinem Alter sollte schon längst schlafen.“

„Liest du morgen weiter?“, fragt das Mädchen und macht einen Schmollmund.

„Nur wenn du mir versprichst, dass du jetzt sofort schlafen gehst.“

„Versprochen!“

Die  Frau drückt ihrer Enkeltochter einen Kuss auf die Wange und schließt dann die Kinderzimmertür hinter sich.

Müde und erschöpft tappt sie in das große Badezimmer.

Als sie gerade den Mund von der Zahnpasta ausspülen will, hört sie ein grelles, helles Kreischen und ihr gefriert das Blut in den Adern.

Hastig rennt die alte frau den langen Korridor entlang und die Treppe hinunter, bis sie am Zimmer ihrer Enkeltochter angelangt und die Tür mit Schwung aufreißt.

Im Raum herrscht ein Chaos, als hätte ein Wirbelsturm darin gewütet und alles mit sich gerissen, was er kriegen konnte.

Inmitten des Zimmers sitzt das kleine Mädchen. Das Gesicht verborgen unter den armen ihres Großvaters und schluchzt laut.

Die alte Frau ist wie erstarrt.

Das ständige schlagen des Fensters an der Wand ließ sie erst aus ihrer Starre lösen und sie tappt hinüber, um es zu schließen.

Nachdem sie es fest verschlossen hat, fällt ihr Blick auf die Fensterbank, wo etwas silbrig funkelt.

Ihr Finger taucht in den Tropfen glitzernden Reifs ein.

„Was ist denn passiert, meine Kleine?“, fragt der Großvater und tätschelt das Gesicht des Kindes, das sich leichenblass von der Dunkelheit des Zimmers abhebt.

„Es war jemand hier!“, kreischt sie ängstlich und klammert sich in seinen Bademantel.

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