Jitka öffnete vorsichtig die Tür und schlüpfte ins Zimmer. Erik stand in der Mitte des Raumes, hatte den Blick auf das Fenster gerichtet und atmete tief ein und aus. Er schien zu versuchen, dadurch wieder ruhig zu werden.
Gerade vorhin noch war er so gut gelaunt gewesen, und jetzt ließ er sich von einer Sekunde auf die andere von Sylvie derart provozieren. Jitka ging zu ihm hin und zog ihn an sich. „Du wirst mir deine Stadt zeigen, egal ob es deiner Schwester passt oder nicht."
„Ich hatte ohnehin nicht vor, sie um Erlaubnis zu fragen", antwortete er, erwiderte Jitkas Umarmung und seine Stimme klang bereits etwas entspannter. „Ich habe mich darauf gefreut, das lass ich mir jetzt bestimmt nicht verderben."
„Gut so", sagte Jitka, sie lehnte sich und strich ihm durch seine unfrisierten, etwas abstehenden Haare. Vielleicht war es besser, sie gab es einfach auf, aus Erik und Sylvie schlau werden zu wollen. Einmal sagte er, Sylvie sei einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben, und dass er das letzte Jahr ohne sie quasi kaum überlebt hätte und dann ließ er sich wiederum von einer ihrer Bemerkungen dermaßen auf die Palme bringen. Von wegen Lieblingsschwester. Jitka fand jedenfalls, dass Sylvie heute schon so einiges vom Stapel gelassen hatte, wofür man sie an die Wand kleben konnte, aber das Meiste davon schien Erik wiederum überhaupt nichts ausgemacht zu haben.
„Weißt du was", sagte er und küsste sie. „Wir machen uns jetzt fertig und dann fahren wir los. Willst du zuerst ins Bad?", fragte er sie.
„Fang du ruhig an", antwortete sie. Daraufhin suchte er sich seine Sachen zusammen und ging hinaus. Wenn man ins Bad wollte, musste man zuerst durch das Wohnzimmer. Er ging an den Anderen vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Irgendwie war das jetzt eine äußerst seltsame Situation. Sie ging ebenfalls hinaus, und setzte sich einstweilen zu den Anderen an den Tisch. Immerhin hatte sie ihren Kaffee noch nicht ausgetrunken und ihr halb gegessenes Schokoladenbrötchen lag auch noch da. Magrethe schien ihr betretenes Gesicht gleich bemerkt zu haben, denn sie lächelte Jitka nun aufmunternd an, als wollte sie sagen: Mach dir nichts draus, so ist das öfter. Sie hatte Eriks launenhafte Seite noch nie so wirklich kennengelernt, auch wenn ihr irgendwie bewusst gewesen war, dass es die gab.
„Und? Fahrt ihr in die Stadt?", fragte Magrethe dann unbekümmert, als sei nichts gewesen. Jitka nickte nur. Sie bemühte sich, Sylvies Blick zu meiden, was ihr natürlich nicht gelang, sie war zu neugierig auf deren Reaktion. Doch aus Sylvies Miene ließ sich überhaupt nichts ablesen.
„Wenn ihr wollt kann ich euch ab dem späten Nachmittag von Eriks Wohnung mit dem Auto holen. Sagt einfach Bescheid", erklärte Magrethe freundlich.
„Danke, das ist sehr nett von dir", sagte Jitka und lächelte Eriks Mutter an. Sie strahlte eine Ruhe aus, die man bei Erik und Sylvie vergeblich suchte. Es dauerte nicht lange, da kam Erik fertig angezogen aus der Dusche. „Kannst schon!", rief er ihr zu und verschwand wieder im Schlafzimmer. Jitka zuckte mit den Schultern, schnappte sich ihr Zeug, und ging ebenfalls ins Bad. Sie beeilte sich, denn Erik war bestimmt ungeduldig. Und er hatte vermutlich allen Grund dazu. Er wusste nicht, wie lange er sich so fit fühlen würde und sie konnte verstehen, dass er die Zeit so gut es ging, nützen wollte. Als sie zu ihm ins Schlafzimmer zurückkehrte, hatte er bereits seinen Rucksack gepackt und war bereit zum Aufbruch.
Auf dem Weg nach draußen verabschiedeten sie sich flüchtig von den Anderen und machten sich auf den Weg zur Schnellbahn. Er ging langsamer, als sonst mit seinen klobigen Stiefeln, in denen er recht unelegant dahinschlurfte, aber darauf kam es jetzt nicht an. Sie hatten schließlich den ganzen Tag Zeit und er sollte sich nicht schon unterwegs zur Haltestelle verausgaben. Als sie schließlich im Zug saßen, wirkte er doch ein wenig geschafft.
„Bist du müde?", fragte sie ihn.
„Geht so", sagte er. „Bis zum Aussteigen geht's wieder", sagte er.
„Immerhin warst du jetzt länger nicht draußen."
„Stimmt nicht", widersprach er. „Ich war im Garten, ich war beim See, ich habe den Kindern sogar mit dem Schneemann geholfen. Aber in der Stadt war ich nicht, außer bei Terminen im Rigshospital, aber da hat meine Mutter mich hingebracht. Also gilt das nicht. Es hat einfach keinen Grund gegeben, in die Stadt reinzufahren", sagte er und fügte dann seufzend hinzu: „Es wird höchste Zeit, dass die mich endlich in Ordnung bringen." Sie konnte ihm ansehen, wie mühsam er das alles mittlerweile fand und wie sehr er davon genug hatte.
Vielleicht war er gar nicht so sauer auf Sylvie, sondern eher auf seine ganze Situation. Er konnte noch so optimistisch tun, und vielleicht schaffte er es damit sich auch selbst einzureden, dass alles nicht so schlimm war. Vielleicht war das seine Strategie, um alles irgendwie durchzustehen. Manchmal schien es zu funktionieren. Aber sie konnte sich vorstellen, wie frustrierend es sein musste, dass nichts mehr so ging wie früher. Und wenn Sylvie dann auch noch darauf herumpochte, machte das alles noch schlimmer. Selbst, wenn sie es im Grunde gut meinte.
Immerhin machte er beim Aussteigen wieder einen einigermaßen munteren Eindruck. Er ging mit ihr queer durch das Backsteingebäude des Hauptbahnhofs und sie traten ins Freie. Vor ihnen lag eine breite Straße. Auf der gegenüber liegenden Seite waren hinter den Mauern die bunten, momentan stillstehenden Karussells und Hochschaubahnen des Tivoli zu sehen. Irgendwie ging davon eine sehr hübsche, nostalgische Rummelplatzatmosphäre aus.
„Leider haben die zu um diese Zeit, aber du musst im Sommer kommen, bis dahin bin ich auch hoffentlich wieder fit genug. Dann müssen wir abends hin, wenn alles beleuchtet ist. Danach vergisst du garantiert die Moskauer Weihnachtsbäume."
„Bist du dir da so sicher?"
„Absolut." Sie stiegen nun in einen Bus, mit dem sie einige Stationen bis zu Eriks Wohnung fahren würden. Um die Heizung einzuschalten, damit sie nachher, wenn er ihr das Wichtigste gezeigt hatte, nicht am Sofa festfroren, wie Erik meinte. Er bugsierte sie auf einen Fensterplatz und kommentierte während der Fahrt, was sie sahen.
Schließlich fuhren sie auf einer Brücke über eine Art schmalen, langgezogenen Wasserlauf. „Das ist der erste der drei Seen, der St. Jørgens Sø. Oder der Dritte, je nachdem, von welcher Seite man kommt. Und das futuristische Gebäude dort am Wasser, dieser durchgeschnittene Zylinder ist das Tycho Brahe Observatorium."
„Oh, Tycho Brahe!", rief sie aus. Den kannte sie ja. „Der berühmteste Däne von Prag!" Im Oktober hatte Erik darauf bestanden, das Grabmal des um 1600 in Prag verstorbenen dänischen Astronomen, in der Teyn-Kirche zu besuchen. Da ein anderer berühmter Däne, Hans Christian Andersen, über 200 Jahre später in seinem Reisetagebuch über Prag vermerkt hatte, der nach Prag reisende Däne müsse unbedingt den berühmten Dänen in der Teyn Kirche besuchen. Sylvie hatte ganz schön Augen gemacht, als Erik dies mit einer vielleicht etwas demonstrativen Selbstverständlichkeit erzählt hatte. Immerhin schien sie sich unterwegs immer dafür zuständig zu fühlen, mit Reisewissen zu prahlen. Arme Karina, die würde heute so einiges über sich ergehen lassen müssen.
„So die nächste steigen wir schon aus, dann sind wir quasi bei mir vor der Haustür", verkündete Erik nun und sie begaben sich zum Ausgang.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
General FictionManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...