Das Reh ist nicht besonders gut genährt. Unter seinem matten, braunen Fell kann ich die Rippen gut erkennen. Auch erkenne ich an seiner grausilbernen Schnauze, dass es nicht mehr besonders jung ist. Demnach wird das Fleisch zäh und sehnig sein. Aber das spielt für mich und meine Familie keine Rolle. Fleisch ist Fleisch. Besonders jetzt im Winter.
Dieses Reh wird unsere sechsköpfige Familie etwa eine Woche lang satt machen. Wenn wir sparsam damit umgehen, reicht es vielleicht sogar für zwei Wochen. Für das Fell können wir auf dem Marktplatz einen guten Preis erzielen oder meine Mutter näht daraus Kleidung.
Ganz langsam und darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, ziehe ich einen Pfeil aus meinem Köcher. Ich lege ihn auf den Bogen und ziehe dann die Bogensehne nach hinten. Ich ziele auf den Hals des Rehs, versuche zu ergründen, wo die Hauptschlagader liegt.
Plötzlich fliegt ein Vogel aus einem nahestehenden Gebüsch, auf. Das Reh springt mit schnellen Sprüngen an den Rand der Lichtung. Blitzschnell lasse ich den Pfeil los. Er trifft das Reh, als es gerade im Begriff ist, zwischen den Bäumen zu verschwinden. Vom Schuss getroffen, fällt es zu Boden.
Ich springe aus meiner Deckung, hinter dem Dornenbusch, auf und renne zu dem am Boden liegenden Körper. Der Schuss hat das Tier am Hals getroffen, jedoch nicht getötet. Es windet sich noch im Todeskampf. Schnell zücke ich mein Jagdmesser und beende sein Leiden.
Das Blut an meinen Händen und dem Messer putze ich mit Schnee weg.
Dann stecke ich das Messer wieder zurück in die Scheide, welche ich an meinem Gürtel trage. Ich gehe in die Knie und hieve mir das Reh auf die Schultern. Als ich sicher bin, dass es gut auf meinen Schultern liegt und nicht herunterfallen kann, mache ich mich auf den langen und beschwerlichen Rückweg zu unserem kleinen Häuschen.
Bei meiner Ankunft wird grosse Freude herrschen. Endlich bekommen alle wieder einmal eine Portion zu essen, welche auch satt macht. Schon nur bei dem blossen Gedanken an Fleisch heult mein Magen hungrig auf. Die letzte richtige Mahlzeit habe ich vor drei Tagen eingenommen. Seitdem habe ich nur auf Baumrindenstücken und einigen ausgegrabenen Wurzeln herumgekaut, um das schlimmste Hungergefühl zu betäuben. Trotzdem hört der Schmerz in meinen Bauch niemals richtig auf. Zu den Schmerzen in meinem Bauch gesellen sich jetzt auch noch, die von der Last des Rehes beschwerten, Schultern und die brennenden Beine.
Obwohl unser Haus am Waldrand liegt, wird der Fussmarsch zurück sicher zwei Stunden in Kauf nehmen. Vielleicht sogar noch mehr, wenn es wieder zu schneien anfängt. Die Last des Rehes verlangsamt mich zusätzlich.
Meine Arme und Beine schmerzen immer mehr, doch ich stapfe verbissen weiter durch den Schnee. Vor Sonnenuntergang muss ich unbedingt zu Hause sein. Denn auch Wildtiere wie Bären und Wölfe sind hungrig. Durch ihren Hunger werden sie unberechenbar. Im Sommer würden sie es nie wagen, einen Menschen anzugreifen. Doch im Winter muss ihr Hunger nur gross genug sein und sie gehen das Risiko ein. Tagsüber ist es sicherer als nachts. Denn nachts sind sie den Menschen eindeutig überlegen.
Eigentlich sollte ich nicht so tief in den Wald gehen, besonders nicht alleine. Doch je tiefer man in den Wald geht, desto mehr steigt die Chance, auch etwas zu erlegen. Auch wenn es nur ein altes abgemagertes Reh ist.
Ich stapfe immer weiter, obwohl ich das Gefühl habe, unter meiner Last zusammenzubrechen.
Nach etwa einer Stunde, gönne ich meinen Beinen einen kurzen Rast. Ich trinke einen kleinen Schluck Wasser aus meiner Feldflasche und kaue auf einem Stück Baumrinde herum. Dann hieve ich mir das Reh wieder auf die schmerzenden Schultern und stiefele weiter Richtung Waldrand.
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Winterjagd
Short StoryIm Winter ist es schwer Beute zu finden. Die Jagd ist oft erfolglos und man muss sich der Natur geschlagen geben. Doch auch nach einer erfolgreichen Jagd ist man nicht sicher vor dem Tod. Denn viele hungern. Und einige würden töten, um ihren Hunger...