Unbekannte Sicht:
Berk...
Was für ein abstoßender Haufen Felsen, umgeben von nichts als Wasser, so weit das Auge reicht. Diese Insel mag zwar hübsche Berge, Täler, Wälder, Wiesen und Sonnenuntergänge haben, doch haben ihre Bewohner auch mindestens genauso viele Schrecken zu erdulden. Wilde Tiere, wie sie jeder Ort hat, gibt es hier auch, doch Drachen stehen hier genauso an der Tagesordnung. Faszinierende Kreaturen, wenn ich ehrlich bin.
Dann kann es vorkommen, dass die hier heimischen Wikinger von anderen Wikingerstämmen angegriffen werden. Pfft, erbärmlich... Aber darum soll es hier auch gar nicht gehen.
Was ich euch hier erzähle, ist die Geschichte zweier äußerst ungleicher Geschwister. Unterschiedlich unter sich, doch verglichen mit ihrem eigenen Volk wie ein Ei neben einem anderen. Zwei Geschwister, die wohl den größten Einfluss auf die Geschichte diesen Archipels hatten.
Und dann gibt es noch jemanden... noch etwas. Von dieser Welt, auf eine gewisse Weise jedoch auch nicht. Ein Jäger aller, doch niemandes Gejagter. Ein Geschöpf, so wundersam und furchterregend, dass jeder Drache daneben wie eine harmlose Feldmaus erscheint. Der König der Jäger, das Wesen der Dunkelheit...
Der Räuber der Leere.
Und wer ich bin? Das werdet ihr gleich erfahren...
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Es war finsterste Nacht auf Berk, zusätzlich geprägt von Sturm, Regen, Blitz und Donner, als hätte Thor einen schlechten Tag gehabt oder als sei er sauer auf jemanden. Vielleicht ja auf die berkianischen Patrouillen, die sich mittlerweile unter Dächer in Nähe ihrer Posten gestellt hatten.
Bei einem solchen Wetter wäre es ein Wunder, wenn jemand einen Eindringling wahrnehmen würde. Und wie es der Zufall wollte, war genau das der Fall.
Eine schlanke, hochgewachsene, feminine Gestalt, gänzlich in Rot gekleidet, lief langsam durch die Häusergassen. Sie machte sich noch nicht einmal die Mühe, leise zu sein. Das Unwetter übertönte ohnehin alles. Unbekümmert schritt sie schnurstracks durch eventuell entstandene Pfützen, denn nass war sie ohnehin. Und außerdem hatte sie Wichtigeres zu tun, als wie ein kleines Kind um ein paar Pfützen herumzutänzeln.
Als sie aufsah, musste sie lächeln. Das heißt, man konnte ihr Lächeln nicht sehen, da es immerhin erstens stockdunkel war und sie zweitens eine Art roter Schleier bis über ihre Nase gezogen hatte. Ihre Augen waren aufgrund der Dunkelheit nicht zu erkennen.
Ihr Ziel war die Hütte des Häuptlings und sie war nicht mehr sehr weit.
Um genau zu sein, war sie nur wenige Schritte entfernt, welche die Gestalt im Eiltempo zurücklegte und schnurstracks die schräge, mit nassen und rutschigen Dachschindeln aus Holz geschwind und trittsicher hochkletterte. Von innen hätte man die Töne der leichten Tritte mit größeren Regentropfen verwechseln können.
Sie kletterte bis zu einem Fenster, das mit einer schrägen Plane abgedeckt war, damit der Regen nicht hineinschüttete. Vorsichtig packte sie die Plane, zog sie ein Stück zur Seite und ließ sich leise in das Zimmer, in welchem ein Junge und ein Mädchen, beide nicht älter als zehn Jahre, in ihren separaten Betten schliefen, fallen.
Bevor sie die Plane jedoch wieder vorschieben konnte, zuckte ein greller und naher Blitz am Himmel. Dieser fiel unglücklicherweise direkt in das Blickfeld des Mädchens, sodass es erschrocken hochzuckte.
Schnell rollte sich die Frau in Rot leise in eine unbeleuchtete Ecke des Zimmers und ließ die dunklen Schatten den Rest für sich erledigen, während sie das junge Mädchen beobachtete, welches verwundert zur lose hängenden Plane schaute.
Die Frau fluchte innerlich. ‹Leg dich wieder schlafen, Kleine›, dachte sie.
Das Mädchen reagierte jedoch nicht auf die unausgesprochenen Worte, sondern schwang ihre Beine aus dem Bett, holte einen Stuhl heran und begann, die Plane wieder festzumachen und leise vor sich hinzusummen.
Die Miene der Frau wurde grimmig. Während die Kleine wach war, konnte sie schlecht den Jungen entführen. Sie würde nur entdeckt werden. Sie zog ohne einen Laut ihren Dolch, dessen beidseitige Klinge eher nach sanft geschwungenen Wellen aussah.
Doch sie überlegte es sich wieder anders. ‹Ich töte Zeugen, aber keine Kinder›, dachte sie still. ‹Dann sieht die Lieferung eben ein wenig anders aus als vereinbart.›
Also steckte sie den Dolch weg und schlich sich an das Kind heran.
Dieses war nun jedoch mit der Befestigung der Plane fertig und drehte sich auf dem Stuhl um, woraufhin ihr leichtes Summen verstummte.
Die beiden sahen sich direkt an. Die Frau richtete sich zu voller Höhe auf und legte einen Finger über ihre mit dem roten Schleier bedeckten Lippen und wollte das Mädchen gerade zur Stille ermahnen, als es ihm zuvorkam: «Eine Bewegung und ich schreie», flüsterte es.
Die Frau musste grinsen und flüsterte zurück: «Ein Mucks und dein Bruder stirbt.» Eine Lüge, aber das musste ja niemand wissen. Ihr jüngeres Gegenüber fand allein schon die Stimme der Frau beängstigend, welche der Intensität und Ausdrucksstärke eines Donners glich.
Selbst in der Dunkelheit konnte sie sehen, wie das Mädchen blass wurde, und sie musste schmunzeln. «Wie ist dein Name, Kleine?»
«Maeri Haddock», antwortete das Mädchen mit trotziger Miene.
«Die Häuptlingstochter, hm?»
«Ganz recht!», sagte Maeri und stemmte sich die kleinen Fäuste in die Hüften. «Und wenn mein Vater erfährt, dass du hier bist, dann bist du erledigt!»
Ihr erwachsenes Gegenüber gluckste. «Nicht, wenn er weiß, was gut für sein kleines Mädchen ist», entgegnete sie, packte das Mädchen am Arm und zog sie vom Stuhl, was sie zu einem kurzen Schrei veranlasste. Zu allem Überfluss fiel auch noch der Stuhl um und verursachte ordentlich Krach.
Die rote Frau zuckte zusammen und warf einen kurzen Blick zu dem noch immer im Bett liegenden Jungen, der sich nun jedoch schläfrig aufrichtete und grummelte. «Was ist denn?» Schnell legte sie Maeri eine Hand auf den Mund und hob sie hoch, doch das Mädchen schrie, wenn auch gedämpft, gegen ihre Handfläche.
Mit dem Mädchen auf dem Arm rannte die Frau die Stufen hinunter, stieß die Tür auf und rannte weiter. Hinter ihr konnte sie den Jungen rufen hören: «VATER! MAERI WIRD ENTFÜHRT!»
Die Frau in Rot murmelte leise Flüche vor sich hin, während sie aus dem Dorf rannte, bis Maeri auf die Idee kam, ihrer Entführerin in die Hand zu beißen.
«Verdammt!», zischte sie ärgerlich und zog ihre Hand zurück, hielt jedoch nicht an.
«LASS MICH RUNTER!», schrie das Mädchen weiter.
«OH, ICH LASS DICH GLEICH RUNTER», donnerte die rote Frau zurück. «DIE KLIPPEN HINUNTER IN DEN OZEAN! WIE KLINGT DAS?!»
Das schien Maeri zu überzeugen, obwohl ihre Entführerin es mitnichten ernst meinte. Immerhin war das Mädchen wortwörtlich Gold wert.
Als sie stumm die Grenzen zum Wald überquerten, während sich nun langsam im Dorf etwas tat, warteten bereits ein paar grimmige, massige, mit Fackeln erhellte Gestalten auf sie.
«Alvin», sprach die Frau gelassen. «Ich habe, was du wolltest.»
Zwischen den ganzen Wikingern trat einer mit einem besonders buschigen, schwarzen Bart, einem für diese Gegenden typischen Helm mit auffallend krummen Hörnern und einer Miene, mit der er aussah, als hätte er seit Monaten nicht mehr gelächelt, hervor.
«Das ist nicht der Junge», stellte er grimmig fest, was ihm nur ein Augenrollen von Maeri einbrachte.
«Ach wirklich?», meinte die rote Frau sarkastisch. «Ist das nicht egal? Der Häuptling wird auf keines seiner Kinder verzichten wollen und euch gut bezahlen. Und ich erwarte ebenfalls eine entsprechende Belohnung.»
«Abgemacht war der Junge. Ohne ihn gibt's für dich keine Bezahlung», widersprach Alvin.
«Jetzt hör aber mal auf», protestierte die Entführerin. «Erstens bekommt ihr so oder so euer Geld vom Häuptling und zweitens ist das auch für mich ein eher unorthodoxer Auftrag. Ich verlange das vereinbarte Fünftel des Lösegelds oder ich nehme das Mädchen wieder mit.»
Einer von Alvins Männern legte knurrend die Hand auf sein Schwert und trat vor, doch die rote Frau war schneller. Sie zog Maeri fest an sich, zückte blitzschnell ihr Schwert und hielt es dem Verbannten unter die Nase. «Vorsicht», mahnte sie. «Ich habe schon furchteinflößendere Männer getötet.»
«Wir wissen um deinen Ruf, Kopfgeldjägerin», sagte Alvin ruhig. «Meinetwegen sollst du dein Geld bekommen.»
‹Eine Kopfgeldjägerin?›, dachte Maeri erschrocken. Sie wusste, was Leute wie sie taten. Nur Sklavenhändler waren schlimmer, denn im Gegensatz zu denen verdiente ein Kopfgeldjäger sein Geld nicht mit Leben, sondern mit Leichen. Es wunderte sie, dass diese rote Frau stattdessen eine Entführung durchzog, aber das erklärte immerhin, warum sie von einem „unorthodoxen Auftrag" sprach.
Zufrieden steckte die Kopfgeldjägerin ihr Schwert wieder weg, doch in diesem Moment entschlüpfte das kleine Haddock-Mädchen ihrem Griff und rannte. Jedoch nicht sehr weit, denn sie war kaum ein paar Meter gekommen, da packte ihre Entführerin sie wieder am Arm und zog sie zurück.
«LASS MICH LOS!», schrie Maeri wieder. «ICH WILL ZU MEINEM VATER!» Sie boxte der roten Frau mit der freien Hand in den Bauch, auch wenn es nicht besonders kräftig war.
Ein wenig verärgert packte sie auch die andere Hand des kleinen Mädchens und starrte in ihre Augen, während Maeri wütend und trotzig zurückstarrte. Auf einmal jedoch zog die Kopfgeldjägerin verwundert die Augenbrauen zusammen. Vorsichtig legte sie die Hände an Maeris Wangen und hockte sich vor sie. Das Mädchen sah sie nur nervös an, während die Frau ihr Gesicht eindringlich studierte.
«Deine Augen, Kind», hauchte sie. «So voller Dunkelheit... Ich... ich sehe nicht nur deine, sondern blaue Augen... braune... grüne...», fuhr sie fort. «Augen, die du für immer schließen wirst.»
Maeri sah sowohl ängstlich, als auch verstört aus. Ihr Atem stockte, als sie bemerkte, dass die Augen der Kopfgeldjägerin in einem fast leuchtenden Gelb erstrahlten. Wie bei einem Raubtier. Es schien ihr, als könnte diese Frau ihr direkt in die Seele blicken.
«Wir werden uns wiedersehen», murmelte die rote Frau mit den gelben Augen in einem Tonfall, als hätte sie einen nicht identifizierbaren Schatz gefunden, der erst erforscht werden müsste.
Plötzlich wurden Stimmen in der Nähe laut, doch sie kamen nicht von den Verbannten.
«Wir müssen los!», zischte Alvin drängend.
Eine Weile sah die rote Frau Maeri noch an, nahm dann aber die Hände von ihren Wangen und stand auf. «In Ordnung», sagte sie. «Gehen wir.»
«Oh nein», meinte Alvin mit einem leisen Lachen. «Du wurdest für eine reibungslose Entführung bezahlt. Klingt das etwa nach einer reibungslosen Entführung?» Er deutete in die Richtung der Stimmen, die sich dem Wald schnell näherten.
«Technisch gesehen wurde ich noch gar nicht bezahlt. Und ich will einen Bonus von zehn Prozent», brummte sie ärgerlich.
«Du bekommst fünf», entgegnete Alvin frostig und packte die kleine Haddock vergleichsweise vorsichtig am Arm. Immerhin wollte er die Ware nicht beschädigen. «Aber die auch nur, wenn du dafür sorgst, dass wir es hier heil rausschaffen.» Mit diesem Worten traten er und seine Männer mit Maeri im Schlepptau den Rückzug an.
«Ihr spinnt wohl!», rief das Mädchen. «Lasst mich runter!»
Die rote Frau sah ihnen hinterher und schmunzelte. Dieses Mädchen war etwas Besonderes, keine Frage. Jedoch hatte sie gerade keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Stimmen waren nah und sie musste sie lange genug aufhalten. Dafür wurde sie immerhin angeheuert.
Also trat sie aus dem Wald hervor, wo sie von dutzenden auf sie gerichteten Schwertern, Äxten, Speeren und Pfeilspitzen begrüßt wurde.
«Das ist sie, Vater!», rief ein kleiner, schmächtiger Junge, der an dem Waffenrock eines muskelbepackten Riesen mit einer Axt in der Hand und einem flammenroten Bart im Gesicht zog. Den Jungen erkannte sie wieder: Hicks Haddock, ihr ursprüngliches Ziel. Dann war dieser Hüne also sein Vater, der Häuptling.
«Danke, Hicks», brummte er. «Jetzt geh wieder nach Hause.»
«Aber-», setzte er an, erhielt aber nur einen strengen Blick von seinem Vater.
«Nach Hause, sagte ich», verdeutlichte er und starrte die rote Frau grimmig an. «Was hier gleich passiert, solltest du nicht mit ansehen.»
Der Blick des Jungen wurde nervös, bis er einige Schritte nach hinten machte und sich schließlich schnell auf den Weg nach Hause begab.
Einen Moment standen die Wikinger einfach nur um die Kopfgeldjägerin herum und richteten weiter die Waffen auf sie, bevor der Häuptling wieder das Wort erhob.
«Wer bist du? Ich will wissen, wem ich den Schädel von den Schultern schlage!», forderte er, doch die rote Frau reagierte gelassen.
«Ich besitze längst keinen Namen mehr», meinte sie schmunzelnd. «Aber ich werde „Donner" genannt. Meines Zeichens Kopfgeldjägerin«, fügte sie noch hinzu und verbeugte sich spöttisch.
Das Gesicht ihres Gegenübers verzog sich wütend. Das Einzige, was er mehr verabscheute als Kopfgeldjäger, waren Drachen. Beide töteten nur aus eigenem Nutzen oder weil es ihnen Vergnügen bereitete. „Weißt du überhaupt, wessen Tochter du da entführt hast?»
Sie grinste. «Deine. Und du bist Berks Häuptling Haudrauf der Stoische, ehemals Haudrauf der Rachlüsterne. Aber warum rachlüstern?», fragte sie und grinste.
Haudrauf verzog weiter sein Gesicht und packte seine Axt fester. «Wo. Ist. Meine. Tochter?!»
«Ah, jetzt weiß ich's wieder!», rief sie erfreut und setzte ein hämisches Grinsen auf. «Deine Frau! Valka hieß sie doch, nicht? Sie wurde von einem Drachen entführt. Wirklich sehr tragisch», meinte sie und grinste noch breiter, als sie den Häuptling vor Zorn beben sah. «Und jetzt haben deine Kinder nur noch dich. Ach herrje, sie müssen dir alles bedeuten.»
Vor Hass brüllend stürzte sich Haudrauf mit seiner Axt auf sie, doch sie erwartete ihn bereits mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Sie rollte sich flink zur Seite ab, ließ aber ihr Schwert stecken.
Die anderen Berkianer wollten ihrem Häuptling zu Hilfe eilen, doch Haudrauf hielt sie davon ab. «LASST ES!», rief er wutentbrannt. «SIE GEHÖRT MIR!»
Weiter schwang er Donner, der Kopfgeldjägerin, seine Axt entgegen. Und sie wich ihm weiterhin einfach aus. Irgendwann sprang sie mit einem Rückwärtssalto, hielt sich kurz an seinen Schultern fest und rammte ihm dann ihre Knie in den oberen Teil seines Rückens, sodass er nach vorn taumelte.
Zornig brüllend drehte er sich wieder um. «SCHLUSS MIT DEN SPIELCHEN!»
Schmunzelnd zog sie gemächlich ihr langes, sanft geschwungenes Schwert ohne Parierstange. Kein Wikinger hatte solch eine Klinge je zuvor gesehen und sie würden auch nichts mit dem Begriff anfangen können. Es war ein Katana.
«Aber mit Vergnügen», sagte die Kopfgeldjägerin grinsend, bevor der Häuptling wieder seine Axt in ihre Richtung schwang und sie den Angriff mit spielender Leichtigkeit ablenkte.
Haudrauf hatte eindeutig die körperliche Überlegenheit auf seiner Seite. Wie viel konnte eine Frau mit dieser Statur schon aushalten? Er musste nur die Waffen verkeilen und schon hätte er gewonnen.
Tatsächlich schaffte er es, indem er erst eine Finte durchführte und dann seine Axt drehte, dass die rote Frau nicht einfach ihr Katana wegziehen könnte. Also standen sie da. Aber noch übte keiner Kraft auf die Waffe des jeweils anderen aus.
«Hab ich dich» meinte der Häuptling siegessicher, jedoch mit noch immer anhaltender, unterschwelliger Wut.
Aber die Kopfgeldjägerin reagierte völlig anders als erwartet. Sie... lächelte.
Haudrauf drückte nun gegen ihre verkeilten Waffen.
Sie bewegten sich nicht.
Ärgerlich drückte er stärker dagegen und musste frustriert feststellen, dass sie sich nicht einmal zu rühren schien. Wie war das möglich?
Auf einmal kam wieder Bewegung in die Sache. Zum Schrecken des Häuptlings jedoch in die falsche Richtung. Er bemerkte, wie Donner seine Axt ohne sichtliche Mühe nach hinten drückte. Jegliche Kraft, die er dagegen aufwandte, war verschwendet.
«Nicht schlecht», meinte sie hinter ihrer Maske grinsend und funkelte ihn schelmisch mit ihren raubtierhaften gelben Augen an. «Aber eben nicht gut genug.»
Zu seiner weiteren Fassungslosigkeit trug bei, dass sie nun auch noch eine Hand vom Schwertgriff entfernte und ohne sichtliche Mühe mit rasender Geschwindigkeit ihre Faust in seiner Seite versenkte, dass man es knacken hören konnte.
Die Wucht des Hiebes war so gewaltig, dass er den massigen Häuptling von den Füßen hob und er ein kurzes Stück weiter mit dem Gesicht zuerst im Dreck landete.
Zufrieden schritt sie auf ihn zu, während er sich unter Schmerzen auf Hände und Knie begab und Blut spuckte. «Was... bist du?», stöhnte er nervös, doch gleichzeitig hasserfüllt.
Sie lächelte gleichgültig und holte mit der Hand zu einem Schlag aus, mit dem sie ihn bewusstlos schlagen wollte. Immerhin musste jemand übrig sein, um das Lösegeld für das kleine Mädchen an die Verbannten zu zahlen. Also musste sie ihn auch leben lassen. Das hieß jedoch nicht, dass sie ihn nicht ins Land der Träume schicken konnte. Die Wikinger um sie herum würden sie in Ruhe lassen. Sie hatte den Kampf gegen den Häuptling gewonnen. Sie verdrehte innerlich die Augen. Dämliche Wikinger und ihr Ehrgefühl.
«Ich bin die Beschwörerin des Todes.»
Kurz bevor sie ihre Faust nach vorn schnellen lassen konnte, traf sie ein Pfeil direkt in die Schulter. Verärgert drehte sie sich um und starrte den Wikinger wütend an, der auf sein Ehrgefühl zu pfeifen schien, um seinen Häuptling zu beschützen. Mit dem Bogen in der Hand und dem Pfeil von der Sehne sah er nun nervös zurück.
Auf einmal hörte sie jedoch eine Bewegung hinter sich, die von dem Häuptling ausging. Sie riss die Augen auf. Sie war auf den uralten Trick der Ablenkung hereingefallen.
Während sie ruckartig herumwirbelte, konnte sie noch in der Bewegung wahrnehmen, wie Haudrauf seine Axt wieder genommen hatte und sie in ihre Richtung schwang. Also zog sie ihr Schwert, um den Angriff abzublocken.
Zumindest versuchte sie es. Der Pfeil in ihrer Schulter verlangsamte sie und die Axt rauschte weiter auf sie zu, schien dann aber einfach knapp vor ihrem Hals an ihr vorbeizurauschen.
Nach seinem Streich ließ Haudrauf die Axt langsam wieder sinken, als hätte er sein Ziel erfüllt. Da wusste Donner, dass er getroffen hatte. Stirnrunzelnd führte sie die Hand zu ihrem Hals und musste feststellen, dass ihr eigenes Blut aus einer klaffenden Wunde quoll.
Ihr Körper hatte den Schmerz noch immer kaum wahrgenommen. Unter den langsam ankommenden Schmerzen räusperte sie sich leicht, als hätte sie einen kratzenden Hals. Sie wusste aber leider selbst, dass es sehr viel verheerender war.
Wenig später hustete sie und spuckte Blut, während sie auf die Knie herabsank und sich mit einer Hand die Kehle hielt, aber dennoch breit vor sich hin grinste. «Du kannst... mich nicht töten!», meinte sie hustend und lachend zu den Häuptling.
Dieser hielt sich grimmig, aber eine deutliche Zufriedenheit verspürend, die Seite, stand auf und griff dann wieder fest die Axt. «Das wollen wir doch mal sehen.»
Sie grinste nur noch breiter. «Etwa schon deine... Tochter vergessen?»
Haudraufs Augen wurden groß, bevor er wütend wurde. «Wo ist sie?!», blaffte er.
«Die Verbannten... bestellen ihre Grüße...», murmelte sie heiser und blutspuckend, bevor sie zur Seite kippte und reglos liegen blieb.
Beim Wort „Verbannte" hatte der Häuptling bereits nicht mehr zugehört. Mit einer Hand auf dem angeknacksten Rippen, deren Schmerz er nun wieder zu Spüren bekam, rannte er so gut es ging bereits zu den Schiffen. In Sorge um ihren Häuptling rannten die anderen ihm hinterher.
Nur einer nicht; Der Wikinger, der Donner einen Pfeil in die Schulter gejagt hatte.
Er schritt auf den reglosen Körper der Kopfgeldjägerin zu...
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Maeri saß zusammengekauert in der Ecke ihrer Zelle, als diese aufgeschlossen wurde und der Anführer der Verbannten hereintrat, nachdem die Tür aufgeschlossen wurde.
«Hey, Kleine», begrüßte der Alvin, der fast so groß wie Haudrauf war, sanft.
Trotzig sah sie kurz auf, versteckte dann aber doch wieder ihr Gesicht, indem sie es sich auf die Knie legte. «Geh weg!», kam es gedämpft von ihr.
Er folgte ihrer Aufforderung nicht, sondern kniete sich vor sie. «Weißt du, wer ich bin, kleine Maeri?»
Wieder sah sie trotzig auf, doch diesmal hielt sie den Blickkontakt zu ihm. «Du bist Alvin der Heimtückische. Einer böser Mann.»
«Sagt wer?», hakte er schmunzelnd nach.
«Sagt mein Papa», erwiderte sie und sah ihm weiterhin stur direkt in die Augen.
«Aha», meinte er grinsend. «Und weißt du auch, wieso er das sagt?»
Maeri dachte kurz nach, schüttelte dann aber den Kopf.
Er seufzte. «Es ist alles so lange her... Dein Vater und ich waren damals beste Freunde, wusstest du das?» Die kleine Haddock schüttelte den Kopf und legte ihr Kinn auf ihren Unterarmen ab. Er fuhr also lächelnd fort: «Eines Tages griff uns jedoch ein Riesenhafter Alptraum an. Weißt du, was das ist?»
«Ein Drache!», antwortete sie sofort und strahlte.
Alvin lachte leise. «Das ist richtig, aber leider nur die halbe Wahrheit.» Maeri steckte die Unterlippe nach vorn. Der Verbannte wurde sofort wieder ernst. «Diese Drachen sind extrem gefährlich. Sie reiben sich mit ihrem eigenen Speichel ein. Und dann genügt nur noch ein Funke, bis-»
«Oh, bis sie sich selbst entzünden?», wurde er von Maeri unterbrochen.
«Richtig», meinte Alvin lachend und stupste mit seinem großen Zeigefinger ihre kleine Nase an, was sie zum Kichern brachte. «Kluges Mädchen. Also... Riesenhafter Alptraum... genau! Eines Tages griff uns also ein solcher Drache an und... sagen wir einfach, dein Vater und ich waren unterschiedlicher Meinung, wie man ihn am besten bekämpft. Er war Häuptling und ich hatte seinen Befehlen zu gehorchen, aber ich tat es nicht. Ich zog meinen Plan durch, aber die Folge waren zwei Tote und fünf Schwerverletzte», berichtete er betrübt.
«Du hast es bestimmt nicht so gemeint», sprach Maeri mitleidsvoll.
Er lächelte sanft. «Das habe ich nicht. Aber dein Vater verbannte mich trotzdem für meinen Fehler, und das zu recht.» Er seufzte erneut. «Ich wurde zu einem Teil der Verbannten, doch ich wollte ihm noch immer beweisen, dass ich meinen Fehler wiedergutmachen wollte. Also tötete ich meinen damaligen Anführer und übernahm die Verbannten.»
Maeri sah ihn mit großen Augen zögerlich an.
«Er war grausam und brutal. Er plünderte sich quer durch das Archipel, mordete nach seinem Vergnügen, brandschatzte wahllos und versklavte Unzählige. So ein Mann war es, den ich tötete, kleine Maeri. Jemanden, der Kinder wie dich versklavte», erklärte er. «Versteh mich nicht falsch. Für mich ist Morden kein Zeitvertreib oder ein Hobby, sondern manchmal einfach eine Notwendigkeit.»
«Also hattest du keine Wahl?», fragte sie nach.
«Wir haben alle eine Wahl», entgegnete Alvin. «Ich hätte ihm auch einfach folgen können, aber ich habe mich dagegen entschieden. Manche Menschen muss man töten, bevor-»
«Bevor sie anderen wehtun», vollendete Maeri wieder seinen Satz und lächelte.
Alvin lächelte zurück. «Du bist ein sehr kluges Mädchen. Dein Vater kann wirklich stolz auf dich sein», sagte er und wuschelte ihr leicht durch die Haare, was sie zum Kichern brachte.
Der Anführer der Verbannten fuhr mit seiner Geschichte fort. «Also... dein Vater... Ich zeigte ihm, dass der alte Anführer der Verbannten tot war. Dass ich das Archipel von einer Plage befreit habe. Ich wollte nur Vergebung dafür, doch er schickte mich wieder fort. Seither haben wir kaum mehr ein paar Worte gewechselt. Immerhin bin ich der Anführer von Verbrechern. Weißt du, was all diese Leute getan haben?»
Maeri dachte scharf nach. «Sind das auch Leute, die andere getötet haben?»
Er schmunzelte. «Tatsächlich gibt es davon nur sehr wenige. Die meisten haben sich viel weniger schlimmen Taten zu verantworten. Manche haben andere um Geld betrogen, manch anderer um Vieh. Einige von ihnen haben Prügeleien angefangen, wobei angesehenere Wikinger verletzt wurden. Ein paar Weitere wurden verbannt, weil sie Frauen geliebt haben, mit denen sie nicht vermählt waren. Verdammt, bei mir sind sogar zwei oder drei, die verbannt wurden, weil sie ihren Häuptling falsch angesehen haben.»
«Klingt gar nicht, als wären die meisten Verbannten so furchtbar», meinte Maeri nachdenklich.
«Genau das ist der springende Punkt. Die meisten von uns werden nur als Verbrecher angesehen, weil andere sagen, dass sie als solche gesehen werden sollen. Und dafür werden dann alle von uns sie Abschaum behandelt. Sag mal, warst du je auf der Insel der Verbannten?»
Maeri schüttelte den Kopf.
Der Anführer der Verbannten richtete sich auf und reichte ihr die Hand. «Wir dürften ganz in der Nähe sein. Mittlerweile sollte man sie von diesem Schiff aus sehen können.»
Die junge Häuptlingstochter stand auf und legte ihre kleine Hand in seine riesige, woraufhin er mit ihr langsam aus der Zelle ging, während sie neben ihm her trippelte.
Kurz darauf befanden sie sich an Deck des Schiffes, wo sie von vielen aus der Besatzung neugierig angeschaut wurden. Alvin schmunzelte. «Die sind es nicht gewohnt, Gefangene an Deck zu haben.»
Er lief mit ihr weiter bis zum Bug des Schiffes, hob sie hoch und setzte sie sich auf die breite Schulter. Fröhlich ließ das Mädchen ihren Blick umherschweifen, bis-
«Aber da ist ja nur ein Felsen», bemerkte sie verwundert.
«Richtig, Kleine», sagte Alvin. «Ein großer zwar, aber nichtsdestotrotz ein Felsen. Das ist die Insel der Verbannten.»
«Wie soll man denn an so einem Ort leben können?», fragte Maeri geschockt.
«Das ist eine gute Frage. Wie alt bist du?»
«Also ich habe schon zehn Winter hinter mir. Mein Bruder Hicks nur acht», antwortete sie wahrheitsgetreu. «Aber was hat das damit zu tun?»
«Nun, ich lebe hier schon seit drei Jahren vor deiner Geburt, also seit satten 13», teilte er ihr mit. «Das Leben ist so trostlos wie sonst nirgendwo. Es gibt weder Pflanzen noch Tiere. Man kann weder etwas anbauen noch etwas jagen. Uns bleibt nur der Fischfang. Du kannst dir sicher vorstellen, wie bei uns die Speisekarte aussieht.»
«Immer nur Fisch? Ist ja eklig», merkte Maeri an und steckte angeekelt die Zunge raus.
Der Anführer der Verbannten lachte leise. «Das kann man wohl sagen. Selbst Fischliebhaber werden bei uns abgewöhnt. Tja, und was, meinst du, könnte man sonst tun, Kleine?», fragte er das junge Mädchen.
Sie überlegte kurz. «Vielleicht... Essen bei anderen Stämmen kaufen?»
Alvin musste schmunzeln. «Richtig. Aber das Problem ist, dass wir zum Handeln Geld brauchen. Und Geld bekommt man, indem man Waren eintauscht. Nur ist eben das Einzige, das wir haben-»
«Fische. Und wer würde schon kaufen, was vor der eigenen Küste schwimmt?», begriff die Häuptlingstochter.
«Ganz genau. Und da kommst du ins Spiel, kleine Maeri», sagte Alvin, was ihm einen verwunderten Blick einbrachte. «Wenn mein Vorgänger an Geld wollte, hat er gemordet, geplündert und versklavt. Ich greife da lieber auf Entführungen zurück. So kommen nur Goldvorräte zu Schaden. Weißt du, Kleine... Wir Menschen unterscheiden uns gar nicht so sehr von den Drachen. Sind wir ausgehungert, tun wie alles, um an etwas Essbares zu kommen. Ich muss meine Leute bei Laune halten, sonst holen sie sich ihr Gold auf andere Weise. Verstehst du das?»
«Auch die Leute, die gar nicht so schlimme Dinge getan haben?», fragte Maeri.
«Wir alle haben eine Schmerzgrenze, bevor wir uns gegenseitig umbringen. Selbst wegen so etwas Banalem wie Essen. Viele meiner Jungs sind noch immer gute Leute und hätte gern, dass es so bleibt. Und dein Vater legt sicher eine Menge Geld für dich hin.»
«Also gibt er euch Geld, damit ihr nicht so werdet wie der alte Anführer der Verbannten?»
«So kann man es auch sagen», meinte Alvin lachend. «Du bist ein schlaues Mädchen.»
Eine Weile stand er noch so da, mit der kleinen Häuptlingstochter auf seiner Schulter und seinem Blick in Richtung der Insel der Verbannten. Dann erhellte sich seine Miene.
«Sag mal, Kleine», begann Alvin, «hast du jemals einen Bogen in der Hand gehabt?»
Maeri schüttelte den Kopf. «Nein, eigentlich noch nicht. Vater sagt immer, der Bogen sei die Waffe eines Feiglings.»
Er hob das Mädchen von seiner Schulter und stellte sie wieder auf die Füße. «Ach was, ein Bogen spart Zeit. Vor allem bei der Jagd. Komm mit. Ich will dir was zeigen.»
Wieder nahm sie die Hand des riesigen Verbannten und ließ sich von ihm bis vor seine Kajüte führen. «Warte einen Moment hier», sagte er und verschwand dann für eine Weile hinter der Tür.
Maeri konnte hören, wie er nach etwas wühlte, bis er schließlich wieder nach draußen trat. Und sie staunte nicht schlecht, als sie sah, was er da in den Händen hatte.
«Hier haben wir's», sagte er lächelnd und hielt ihr einen kleinen Bogen in ihrer Größe und zehn passende Pfeile. «Das war mal mein Bogen, als ich in deinem Alter war. Ist aber noch in exzellentem Zustand.»
Das kleine Mädchen strahlte ihn über's ganze Gesicht an, als sie ihm die Sachen aus der Hand nahm.
«Na los», forderte er sie auf und deutete auf den Mast in der Mitte des Schiffes. «Versuch mal zu schießen.»
Maeri gehorchte eifrig, während im Weg stehende Verbannte schnell aus der Schussbahn liefen. Konzentriert legte sie einen Pfeil auf die Sehne, hielt dann den Bogen weit von sich entfernt, zog an der Sehne und ließ sie dann, nachdem sie gezielt hatte, zurückschnellen.
Das klappte leider nicht ganz so gut, wie sie es sich erhofft hatte. Der Pfeil flog zwar, aber erstens völlig am Mast vorbei und zweitens zischte er zwischen den Knien eines Verbannten entlang, der nicht erwartet hatte, dass es ausgerechnet ihn treffen könnte, und bohrte sich in das Fass, an dem er angelehnt war.
Der unglückliche Verbannte machte kurz schockiert einen mädchenhaften Schrei, woraufhin seine Kameraden in schallendes Gelächter ausbrachen. Maeri hingegen schrumpfte in sich zusammen. Sie dachte, man lachte gerade über sie.
«ALLE MAL WIEDER RUNTERKOMMEN!», brüllte Alvin und das Gelächter hörte schlagartig auf. Das hieß aber nicht, dass einige nicht noch grinsten.
«Hmpf, erbärmlich», brummte einer Verbannter, der gegen die Reling gelehnt war und die junge Häuptlingstochter verächtlich anstarrte.
«Maul halten, Rohling!», grollte der Anführer der Verbannten. «Ich bezweifle, dass dein erster Schuss viel besser war.»
Der Angesprochene, Rohling, grummelte nur, als hätte man ihm an's Bein gepisst, während einige andere Verbannte vor sich hingrinsten.
«Gut, fangen wir langsam an», sagte der Riese sanft zu Maeri. «Links- oder Rechtshänder?»
«I-Ich bin Linkshänderin, genau wie mein Bruder», antwortete das Mädchen.
«Gut», meinte er nur und kniete sich dann links neben sie. «Halte den Bogen mit der rechten Hand direkt neben dir. Ganz genau zwischen uns.» Sie befolgte seine Anweisung. «Den rechten Fuß nach vorn, den linken weitere hinten. Dreh die Fußspitze zu mir.»
Wieder gehorchte sie.
«Sehr gut. Jetzt leg den Pfeil an.» Als das getan war, fuhr er fort: «Richte die Pfeilspitze auf das Ziel. Genau so. Und jetzt spannen. Noch nicht schießen! Bleib bei dieser Haltung.»
Sie tat es, während er ihre Haltung prüfte.
«Nimm das Ende des Pfeils an deine Wange. Dann kannst du besser sehen, wohin du schießt. Und nimm den linken Ellenbogen weiter nach oben. Genau so, Kleine. Und jetzt-»
Angestrengt stieß Maeri die Luft aus, die sie angehalten hatte und entspannte die Sehne.
«Was machst du denn?», fragte Alvin irritiert.
«Ich... ich kann nicht mehr... Ich kann die Sehne nicht so lange spannen», erklärte sie und rieb sich den schmerzenden linken Arm.
«Das musst du auch gar nicht.»
«Aber wie soll ich denn sonst zielen?»
«Ganz einfach: Ziele nicht.»
«Was?» Maeri sah den Anführer der Verbannten skeptisch an. Wie sollte sie denn vernünftig schießen, ohne zu zielen?
Er schmunzelte. «Manche würden sagen, Bogenschießen ist eine Sache des Herzens oder dass man sich entspannen soll. Alles Quatsch. Es kommt auch nicht etwa darauf an,» sagte Alvin und tippte sanft ihre Stirn an, «sondern darauf.» Er zeigte mit zwei Fingern auf ihre Augen. «Du musst dein Ziel ansehen, um es zu treffen. Nicht die Richtung, in die die Pfeilspitze zeigt. Nicht abschätzen, wohin der Pfeil wahrscheinlich hinfliegen wird. Du musst nur dein Ziel ansehen. Den Rest erledigt der Körper.»
Sie sah ihn unsicher an, während er ihr ein warmes Lächeln schenkte.
«Jetzt denk an die Haltung, sieh dein Ziel an, und dann einfach nur noch spannen und loslassen. Na los», befahl Alvin und zwinkerte.
Die junge Häuptlingstochter nickte und nahm wieder ihre Haltung an, als-
«Hey, Kleine, ziel doch diesmal ein wenig höher! Ich will sehen, wie du Bjorn die Eier wegschießt!», rief ein Verbannter lachend.
«Ach, leck mich doch, Halvar!»
«Ignoriere sie», sagte Alvin ruhig, als Maeri die beiden beobachtete. «Sieh das Ziel an. Niemals ablenken lassen.»
Zögernd wandte sie den Blick wieder ihrem Ziel zu, sog einmal tief Luft ein und spannte die Sehne. Sie erinnerte sich; Ellebogen hoch, Pfeil an die Wange. Wieder wanderte ihr Blick den Pfeil entlang und sie fragte sich, ob das jemals hinhauen könnte.
«Das Ziel anschauen, kleine Maeri.»
Die junge Häuptlingstochter starrte ihr Ziel nun förmlich an. Ihre Augen bewegten sich kein Stück. Nicht einmal, als sie die Sehne losließ...
...und traf.
Ungläubig starrte das Mädchen den Pfeil an, der zwar nicht tief und auch nicht gerade mittig im Mast steckte, aber die Freude über ihren Treffer war einfach zu groß. Mehrere Verbannte klatschten laut und lachten, während Maeri Freudensprünge machte und vor sich hin jubelte.
«Ich habe getroffen! Ja! Hast du das gesehen?», fragte sie Alvin freudestrahlend.
«Natürlich habe ich das», antwortete er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Die Freude wurde jedoch jäh unterbrochen, als in einiger Ferne ein Horn geblasen wurde. Sofort wandten sich alle Blicke in die Richtung des Lauts.
«Alvin, das sind Berks Schiffe!», alarmierte ihn ein Verbannter.
«Ich sehe sie», antwortete Alvin ruhig. «Holt das Segel ein.»
«Bist du wahnsinnig geworden, Alvin?», rief Rohling aufgebracht. «Willst du uns etwa alle ihnen ausliefern?»
Der Anführer der Verbannten knurrte. «Noch ein einziges Widerwort, Rohling, und ich schicke dich zu ihnen mit dem Mädchen als Entschädigung für die Unannehmlichkeiten herüber. Sie werden nicht wagen, uns anzurühren. Nicht solange wir sie haben.»
«Ist mein Vater da?», fragte Maeri plötzlich und schaute über die Reling zu den Schiffen hinüber.
Alvin kniete sich vor sie und lächelte. «Ja, Kleine. Er ist da, um dich wieder mitzunehmen. Und so wie ich ihn kenne, weiß er bereits, was wir für dich wollen.»
«Das heißt, ihr bekommt erst einmal genug Gold, um eine Weile gut leben zu können?», fragte das Mädchen. Es rührte ihn, diesen leichten Hauch der Besorgnis von ihr zu hören.
Er nickte und lächelte sanft. «Den Bogen kannst du übrigens behalten. Und die Pfeile auch. Du hast Talent, also übe ruhig damit ein wenig. Ansonsten heißt es jetzt wohl nur noch Abschied nehmen.»
Die kleine Häuptlingstochter fiel ihm einfach nur um den Hals. Der Anführer der Verbannten musste lachen. «Schon gut!», meinte er und tätschelte kurz ihren Rücken. «Und ich hab noch etwas für dich.» Mit einem leichten Schniefen ließ sie ihn los, was ihn zum Schmunzeln brachte. «Falls du jemals irgendwann einmal zur Insel der Verbannten kommst, was ich zwar nicht für sehr wahrscheinlich halte, aber möglich ist es dennoch, dann wollen wir doch, dass man dich erkennt.»
Sie schniefte erneut und wischte sich kurz über die Augen. «Und wie?», fragte sie.
Er lächelte. «Du wirst bis dahin vermutlich älter sein und ich werde dich dann nicht so leicht wiedererkennen können. Deshalb schlage ich ein Handzeichen vor.» Er nahm eine Hand hoch. «Und jetzt pass gut auf», sagte er. «Beginnend beim Zeigefinger bis zum kleinen Finger tippst du jeden einzelnen Finger mit deinem Daumen sichtbar an», erklärte er und machte es ihr vor. «Das Ganze machst du dann rückwärts. Und diese gesamte Abfolge dreimal. Und wenn ich es nicht bemerke, mach eine kurze Pause und wiederhole es.»
«Und wenn ich dich nicht wiedersehe?» fragte sie traurig.
«Hey, nicht weinen», sprach er sanft und strich ihr lächelnd mit einem Daumen über die Wange. «Wir sehen uns ganz bestimmt wieder.»
«ALVIN DER HEIMTÜCKISCHE!», donnerte es vom vordersten der berkianischen Schiffe hinüber.
«Das ist das Stichwort», sagte Alvin schmunzelnd und stand auf. «Haudrauf der Stoische!», rief er mit einem breiten Grinsen zurück.
«WO IST MEINE TOCHTER?!», brüllte der berkianische Häuptling. «WENN DU IHR AUCH NUR EIN HAAR GEKRÜMMT HAST, DANN WERDE ICH-»
«Hallo Vater!», rief Maeri, die kaum über die Reling schauen konnte, deren Hand aber deutlich zu sehen war.
Alle Wut schwand sofort dahin. «Maeri!», rief Haudrauf erleichtert.
Der Anführer der Verbannten hob sich das Mädchen auf die Schulter. «Sie ist wohlauf», vermittelte er. «Du weißt, was ich will, hoffe ich?»
«Ich konnte es mir schon denken», lautete die Antwort des Häuptlings, der auf die Frage Alvins ein wenig mürrisch schaute. «Das, was alle deinesgleichen wollen.»
«Dann kommt heran und wir werfen euch ein Tau zu», rief Alvin hinüber.
So geschah es auch. Die restlichen berkianischen Schiffe blieben ein wenig auf Abstand, während das Schiff des Häuptlings weiter auf die kleine Flotte der Verbannten zusegelte. Wie besprochen warf Alvin ein Tau hinüber, welches Haudrauf sofort auffing. Ohne Unschweife begannen beide an dem Tau zu ziehen, um die Schiffe zu verbinden, bis sie Seite an Seite am selben Fleck blieben.
«Kotzbacke, bring ihnen das Gold.»
«Hey, Kleine. Vergiss den Bogen und die Pfeile nicht.»
Haudrauf schaute stirnrunzelnd drein, als sich seine Tochter einen Bogen und einen Köcher umhängte, bevor sie die mittlerweile kurze Distanz zwischen den Schiffen von Reling zu Reling mit einem Sprung überwand. Dort wartete Grobian auf sie, der sie schnell auf den Arm nahm, bevor sie durch das Geschaukel des Schiffs das Gleichgewicht verlieren konnte.
«Ich hab sie, Haudrauf», rief der Dorfschmied und setzte die junge Häuptlingstochter ab, de sofort zu ihrem Vater rannte.
Dieser kniete sich hin und legte einen Arm um sie, während sich seine Tochter an ihn schmiegte. «Kotzbacke, gib ihnen das Gold» befahl er, während er mit einem Arm noch immer das Tau an Ort und Stelle hielt und mit dem anderen Maeri an sich drückte.
«Rohling, nimm die Kiste entgegen und prüfe, ob alles seine Richtigkeit hat», kam es vom Anführer der Verbannten.
Und so geschah es auch: Kotzbacke überreichte Rohling die Kiste. Dieser öffnete sie, nahm ein Goldstück heraus und biss kurz drauf. Er schaut sogar nach, ob die Kiste einen doppelten Boden hatte. Dies war jedoch nicht der Fall. «Alles sauber, Alvin», meldete er.
Alvin nickte zufrieden. «Dann kannst du jetzt loslassen, Haudrauf», sagte er.
Der Häuptling von Berk ließ aber noch nicht los, sondern sagte stattdessen: «Eins noch: Deine Kopfgeldjägerin ist tot. Und wenn du dich nochmal an meinen Kindern vergreifst oder jemanden dafür schickst, wird dir keine Flotte und kein Glück der Welt mehr helfen können. Das schwöre ich bei Odin.»
Alvin schmunzelte. «Das war mir schon klar, aber ich kann nichts versprechen.»
Missbilligend brummend ließ der Häuptling das Seil los, welches der Verbannte wieder einholte. Die Schiffe trieben wieder auseinander.
«Haudrauf!», rief Alvin noch einmal, sodass sich der Angesprochene wieder zu ihm umdrehte. «Ich habe auch noch etwas zu sagen: Deine Tochter hat Talent mit dem Bogen.»
Wie auf Kommando schaute das kleine Mädchen noch einmal über die Reling und winkte wie wild. «Wiedersehen, Alvin!»
Der Anführer der Verbannten winkte leicht zurück. «Leb wohl, kleine Maeri.»
Als sie nicht mehr genau zu erkennen waren, ließ er seinen Arm und seine fröhliche Miene fallen. Der Moment stimmte ihn traurig. Er glaubte nicht, dass er sie noch einmal wiedersehen würde.
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Nachdenklich saß Alvin am Tisch seines Zimmers, die Hände gefaltet und den Kopf darauf gestützt.
Mittlerweile waren sie auf der Insel der Verbannten ohne weitere Zwischenfälle angekommen. Das Gold hatte er mitgenommen und durchgezählt. Es lag neben ihm auf den Tisch. Damit war alles in Ordnung. Wenn die Verbannten sparsam waren, würde es sicher für anderthalb, vielleicht sogar zwei Jahre reichen. Aber auch nur dann, wenn sie weiter Fisch aßen, nur eben nicht in denselben ekelerregenden Ausmaßen.
Aber die Gedanken, die für seine eher trübe Stimmung verantwortlich waren, fanden eher ihren Ursprung in dem Mädchen, das er fast sofort ins Herz geschlossen hatte. Er lächelte. Sie hatte sich in keinster Weise von einem Verbannten einschüchtern lassen, ja noch nicht einmal vor der Kopfgeldjägerin. Maeri war eine Kämpferin, das wusste er.
Er seufzte. Zumindest musste er nicht noch einen Teil des Goldes an Donner abtreten.
In diesem Moment hörte er ein dumpfes Geräusch vor seiner Tür, als hätte jemand einem anderen eins übergezogen. Alvin stand hinter seinem Tisch auf und zog sein Schwert. Vor seinem Zimmer standen für gewöhnlich zwei Wachen. Und wer die niederschlug, der hatte gewiss keine guten Absichten.
Die Tür ging auf, und was er sah, verwirrte ihn.
«Donner?»
Durch die Tür schleppte sich die Kopfgeldjägerin in Rot herein und sah ihm dann argwöhnisch in die Augen. «Ich will mein Geld», krächzte sie heiser.
Alvin stand da wie erstarrt und ließ sein Schwert sinken. «Aber... Haudrauf sagte, du wärst tot... Und was ist mit deiner Stimme los?»
Sie zog Kapuze und Maske herunter, sodass er sie zum ersten Mal überhaupt richtig sehen konnte. Genau wie ihr Körperbau war auch ihr Gesicht schmal mit einer kleinen Nase und dünnen, misstrauisch zusammengezogenen Augenbrauen. Über ihrem rechten Auge befand sich eine Narbe, die von ihrer Stirn bis etwas unter den Wangenknochen ging, wobei ihre Sicht selbst uneingeschränkt war. Ihr raubtierhafter Blick mit den gelben Augen glänzte noch immer furchterregend für alle, die diesen Anblick nicht gewohnt waren. Schwarze, lange Haare fielen ihr die Schultern herunter.
«Er hat versucht, mich zu töten», sagte sie heiser und zog ihre Maske noch weiter herunter. Alvins Augen wurden groß.
Ein deutlicher, mittlerweile jedoch bereits verschorfter Schnitt war auf ihrer Kehle zu erkennen. Als hätte jemand mit einem Messer eine glatte, fließende Bewegung gemacht.
Ihm wurde nun auch bewusst, dass sie aus genau diesem Grund eine so beeinträchtigte Stimme hatte. Ihre klare, für gewöhnlich laute, donnernde Stimme war es, die ihr diesen Namen eingebracht hatte. Davon war nun wenig zu merken.
«Ist das alles dein Blut?», fragte Alvin und deutete auf ihre Kleidung, wo das getrocknete inzwischen braune Blut mittlerweile im Kontrast zu ihrer roten, leichten Rüstung stand. «Und wie kann dieser Schnitt jetzt schon verheilt sein?»
Es war faszinierend, aber erschreckend zugleich, was diese Frau durchmachen konnte. Und selbst nach all dem befand sie sich nun mit halb verheilten Wunden auf seiner Insel und schlug zwei seiner Männer nieder. Er wusste noch nicht einmal, wie sie diese Strecke überhaupt zurücklegen konnte.
«Nein», krächzte sie, und wenn er sich nicht täuschte, hörte er ein gewisses Amüsement aus ihrer Stimme. Schleierhaft, wie sie noch immer frohen Mutes sein konnte. «Nur so ein dummer Berkianer, der dachte, ich wäre tot. Und das hier...», meinte sie und deutete auf ihren Hals, «sagen wir, Gifte sind nicht alles, was ich machen kann.»
Alvin nickte, bis er bemerkte, dass sie noch immer die Hand ausgestreckt hatte.
«Die vereinbarten 25 Prozent...»
«Richtig, richtig...»
Schnell packte er ein Viertel des Goldes in einen kleinen Geldsack und überreichte ihn ihr. Dankend nahm sie ihn an, drehte sich um und schritt langsam aus dem Raum.
«Einen Moment noch!», sagte Alvin und Donner drehte sich um. «Ich habe Aufzeichnungen gefunden... Aufzeichnungen meiner Vorgänger, die bis zu Geirr dem Schlächter, die alle von roten Kopfgeldjägerinnen sprachen.»
«Ja», sprach sie leise und schmunzelte. «Ich hatte leider nie das Vergnügen, Geirr kennenzulernen. Aber Halvar der Gütige war auch eine nette Gesellschaft.» Mit diesen Worten verdeckte sie wieder ihr Gesicht mit Maske und Kapuze und ging aus dem Raum.
«Aber das ist doch...!», rief Alvin, rannte zur Tür, riss sie auf und sah sich um. Fassungslos musste er jedoch feststellen, dass Donner spur- und lautlos verschwunden war.
«Das ist 150 Jahre her...», murmelte er.
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Die Riddari-Geschwister
FanfictionHicks "der Hüne" und seine Schwester Maeri "die Wilde" könnten unterschiedlicher nicht sein. Eine der wenigen Ansichten, die sie teilen, ist folgende: Das Leben auf Berk ist eine Qual. Als Hicks mit Ohnezahn erwischt wird, flieht Maeri mit ihnen, do...