Schein und Sein

170 12 9
                                    


Nowosibirsk könnte wohl eine ganz hübsche Stadt sein. Teilweise ist die Architektur ganz ansehnlich, vor allem je mehr man sich der Innenstadt nähert. Dort finden sich die letzten Zeugnisse der einstigen Zarenstadt – hell leuchtende, bunte Fassaden, die von einer Pracht und Kultur zeugen, die mit der Revolution und den anschließenden Kriegen ein jähes Ende fand. Doch hauptsächlich besteht die Metropole mittlerweile aus Plattenbauten.

Jeder weiß, dass dieser Architekturstil, wenn man ihn denn als solchen bezeichnen will, aus der Not heraus entstanden ist. Nach dem Krieg zogen Millionen von Menschen in den bis dato unterentwickelten Osten der Sowjetunion, die Stadtentwickler waren vollkommen überfordert mit den Menschenmassen, die aus ganz Osteuropa vor dem nationalsozialistischen Rassenwahn und dem damit verbundenen 'Arbeitsdienst' hierher flüchteten.

Und so entstanden die hässlichen, grauen Hochhäuser, über die man sich im ganzen Land hinter vorgehaltener Hand lustig macht – notdürftige Behausungen, die in aller Eile errichtet wurden und ihren dicht an dicht gedrängten Bewohnern nun wahrlich nicht den Lebensstandard ermöglichen, der ihnen einst von Leuten wie Lenin prophezeit wurde; Mietskasernen, die scheinbar nur dem Zweck dienen, dass die Bevölkerung der verhassten Regierung nicht vorwerfen kann, sie wäre nicht mal in der Lage, den Menschen ein Dach über dem Kopf zu bieten.

Zu allem Überfluss hängt der dichte, schwarze Rauch, der aus den Schornsteinen der nahegelegenen Fabriken strömt, wie eine unheilvolle Qualmwolke über der Hauptstadt der Rest-Sowjetunion. Da der Himmel heute ohnehin passend zu unser aller Stimmung trüb und wolkenverhangen ist, wirkt die Stadt dadurch gleich noch trostloser – eine graue Betonwüste, durch deren Mitte sich der Fluss Ob schlängelt. Jedoch hat dieser Fluss nichts mit dem Gewässer zu tun, das ich bisher kannte. Bei Krasnyy Yar ist das Wasser des Obs halbwegs klar, wenn das Licht der Sonne auf ihn fällt, beginnt er zu glitzern wie ein Seidenstrom. Diese grünliche Lache hier dagegen... Würde mich schon stark wundern, wenn ich darin noch ein Lebewesen entdecken würde.

Zu allem Überfluss ist die Stadt schrecklich laut – das ist sogar das Erste, was mir auffällt, nachdem wir gelandet sind, in irgendwelche schwarzen Autos mit getönten Scheiben geschubst und dann durch die halbe Stadt kutschiert worden sind. Vor vielen Jahren, als ich noch im Heim gelebt habe und dementsprechend Zugang zu mehr Büchern hatte, habe ich mal die Geschichte von Tarzan gelesen. Damals empfand ich sie als surreal und habe sie als vollkommenen Humbug abgestempelt – nun dagegen verstehe ich nur allzu gut, wie Tarzan sich gefühlt haben muss, als er den Dschungel verließ.

Wir haben den 23. Februar 1964. Meine Ausbildung beginnt offiziell erst in ein paar Tagen am 1. März, so wie Breschnew es wollte. In der Zwischenzeit werden Dima und ich in einem Hotel einquartiert, während Ljoscha ins Krankenhaus kommt. Die Diagnose steht bald fest: Lungenentzündung. Aber das sollte sich in der Regel gut behandeln.

Leider bekomme ich außer meinem neuen Führungsoffizier fast niemanden zu Gesicht. Dimitrij Fjodorowitsch entpuppt sich – welch Überraschung – als äußerst strenger, fordernder Lehrer. In den nächsten Tagen unterrichtet er mich über die aktuelle politische Situation, klärt mich darüber auf, was überhaupt in der Welt, von der ich in den letzten Jahren so abgeschottet gelebt habe, aktuell so vor sich geht, legt mir den Ablauf der Ausbildung dar... Alle anderen Rekruten haben ihre Ausbildung bereits zum 1. Januar begonnen. Bis zum 30. Juni werde ich mit diesen Leuten, die mir schon ganze zwei Monate voraus sind, festsitzen. Voller Entsetzen muss ich allerdings feststellen, dass es hierbei nur um die Grundausbildung geht – also schießen, kämpfen, laufen und bisschen Spionagearbeit.

Anschließend soll man sich für gewöhnlich entscheiden, welchen Karriereweg man einschlagen will – will man ins PGU, beziehungsweise zur Auslandsaufklärung, will man vielleicht lieber zur politischen Polizei oder möchte man gemeinsam mit den Agenten des WGU nach bösen ausländischen Spionen im Inland suchen? Je nach Zweig kann die Ausbildung dann auch schon mal fünf Jahre dauern, insbesondere wenn man die Offizierslaufbahn einschlagen will. Allerdings ist Letztere nicht mein Ziel, mir sind diese Ränge alle egal. Ich will's hinter mich bringen und mir dann so bald wie möglich einen anderen Beruf suchen. Oder doch wie eine Wilde in den Wäldern leben, wer weiß.

Strelok - Die SchützinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt