N E U N

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„Guten Morgen, Elena!", rufe ich, während ich durch die Hintertüre eintrete und meinen Helm auf den Tisch in der kleinen Küche lege. Der Buchladen besteht aus dem geräumigen Verkaufsraum plus Lager und dem Personalbereich mit einer Küche, einem kleinen Bad und einem Büro, aus dem schon die Stimme meiner Chefin tönt. „Morgen, Liebes!" Zwei Sekunden später steht Elena schon im Türrahmen. „Wie war dein Geburtstag? Alles Gute nachträglich! Wie geht es deinen Eltern?" Ich grinse aufgrund des Redeschwalls, bestehend aus Sätzen, die sie nacheinander auf mich abfeuert. „Vielen Dank. Es war ein schöner Tag. Meinen Eltern geht's super." Elena hat zwar eine Kopie meiner Geburtsurkunde, allerdings scheint sie mit den Namen meiner Eltern nicht viel anfangen zu können. Mir soll's recht sein, je weniger Leute von meiner Existenz wissen, desto sicherer fühle ich mich. Schließlich hat ein Leben als Tonys Tochter nicht nur angenehme Seiten aufzuweisen, sondern könnte auch gefährlich werden. 

„Wie lief das Geschäft ohne mich?" Theatralisch fächelt sich Elena Luft zu. „Es war unerträglich langweilig, meine Liebe. Aber die Kundschaft kam auch ohne dich hübsches Täubchen herein." Auf der Stelle mutiere ich zu einer reifen Tomate. Mit Komplimenten kann ich mal so gar nicht umgehen. Aber das ist leider Elenas Art. Meine letzte Hoffnung ist, mich irgendwann daran zu gewöhnen.
Ich ziehe meine Jacke aus und werfe sie zu meinem Helm, dann trete ich durch eine helle Holztür und schiebe den orangen Vorhang beiseite, der Verkaufsraum und die Privaträume trennt. „Die Kasse ist schon fertig, guck lieber mal, ob im Bestseller-Regal was fehlt!", ruft Elena hinter mir. „Geht klar!", melde ich zurück und steuere auf besagtes Buchregal zu. Elenas Laden ist bunt und lebendig eingerichtet, vermittelt aber genau die ruhige Stimmung, die man sich zum Lesen wünscht. Die Regale an der Wand und in der Mitte des Raumes sind von Elenas Neffen, einem Schreiner, hergestellt worden, ebenso wie die Tafeln über ihnen mit den eingravierten und in verschiedenen Farben ausgemalten Bezeichnungen der verschiedenen Abteilungen. Ich gehe schnell die Bücher durch und befinde die ausgestellten Ausgaben als ausreichend, dann kontrolliere ich noch die anderen Abteilungen und beseitige hier und da etwas Unordnung. In der Spielecke bei den Kinderbüchern kommt da einiges an Herausforderung auf mich zu. Schnell gehe ich in die Hocke und setze die Kuscheltiere zusammen in das eigens dafür aufgestellte Regal, werfe alle Spielbausteine in die dafür vorgesehene Box und stelle das Mobiliar des Puppenhauses ordnungsgemäß in die verschiedenen kleinen Räume.
Ich werfe noch einen letzten kritischen Blick über alle Regale, bevor ich den Schlüssel vom Haken unter dem Ladentisch nehme und damit die gläserne Eingangstür aufschließe. Der Arbeitstag kann beginnen.

„Ich denke, dieses Buch wird Ihrer Tochter sehr gut gefallen. Es hat durchgehend gute Kritiken und entspricht genau dem Genre, das laut Ihrer Beschreibung Ihrer Tochter gefallen müsste", lächle ich freundlich. „Kann ich es im Notfall umtauschen?", erkundigt sich der ältere Mann unsicher. „Natürlich! Solange Sie die Rechnung aufbewahren und das Buch nicht beschädigt wird, nehmen wir Ware auch zurück", erkläre ich. „Gut, dann nehme ich es", beschließt er und folgt mir zur Kasse. Nach dem ich den Strichcode eingescannt habe und das gegebene Geld in der Kassa eingeordnet habe, überreiche ich ihm das Buch in einer Papiertüte. „Vielen Dank für Ihren Einkauf!" „Ich bedanke mich. Ich denke, ich werde wiederkommen!", verabschiedet sich der Kunde freundlich. Mein Lächeln hält auch noch an, als er den Laden längst verlassen hat. Tatsächlich steigt unsere Kundenzahl beinahe jeden Tag, was Elena unglaublich glücklich macht.
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr, der mir zeigt, dass es schon auf Nachmittag zugeht, rufe ich über meine Schulter: „Elena, ich mach' jetzt Pause!" „Ist okay, ich komme gleich!", schreit sie aus dem Büro zurück. Wenige Augenblicke später wird der Vorhang beiseitegeschoben und Elena stellt sich hinter den Kassentresen. Ich schaue noch schnell in die Küche und hole meine Jacke, in der ich den Umriss meines Portemonnaies ertaste. Dann laufe ich die Straße runter in Richtung der kleinen Bäckerei an der nächsten Kreuzung.

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