Kapitel 2

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„Ach komm schon, Kleiner!“, rief mein Bruder hinter mir und legte eine Hand auf meine Schulter. „Du bist nicht mehr im Kindergarten. Das hier ist das echte Leben. Und so handeln wir nun mal. Finde dich damit ab!“

Ich hörte nicht hin sondern blendete das unnötige Gebrabbel aus. Ich wollte nicht hören weshalb ich es als normal sehen sollte, was Vater und Marek heute Nacht getan hatten. Es würde ohnehin nicht funktionieren. Ich hatte sie schon längst in eine passende Schublade abgepackt.

Ich war zwar in ihre Familie hineingeboren worden, doch ich wollte nicht so sein wie sie. Ich wollte nicht über Grausamkeiten hinwegsehen können und selber welche begehen, für einen Grund, der genauso dumm war wie sie selbst.

„Lass mich in Ruhe!“, schrie ich Marek an und wusste einen Augenblick später, dass es ein Fehler gewesen war. Wut brannte blitzschnell in ihm auf und er packte mich an meinem Kragen und zog mich in die Luft. Dank meinen Flügeln konnte ich mein Gewicht ein wenig verlagern, dass es nicht ganz so schmerzlich für mich war.

„Du wagst es so respektlos mit mir zu sprechen?

Deinem Bruder, dem du alles zu verdanken hast. Ohne mein gutes Einreden hätte Vater dich schon längst aus der Familie verbannt, nach dem ganzen Mist, den du abgezogen hast.

Sei froh, dass Onkel Fish dich überhaupt für ein paar Jahre aufnehmen wollte, so untalentiert bist du.“ Jedes einzelne Wort war ein Zischen und ich zuckte davor zurück.

„Ich sehe es nicht ein, dass ihr aus bloßem Verdacht heraus, ein Neugeborenes umgebracht habt.“, sagte ich und musste die Wut unterdrücken, die sich bei diesem Gedanken in mir zusammenbraute.

Marek log, dass wusste ich. Onkel Fish hatte nach mir verlangt. Er wollte dass ich ihn besuchte und in der Zeit, die ich bei ihm verbracht hatte, habe ich die wahren Werte des Lebens eines Engels kennengelernt.

„Ich schwör dir, wenn ich mit dir fertig bin, dann…“, fing er an und sein Griff wurde immer fester, doch die warme Stimme meiner Mutter hielt ihn davon ab, mir weiter wehzutun.

„Lass ihn, Marek.“, sagte sie und legte ihm eine Hand auf den Rücken. Mein Bruder ließ mich sofort los und trat einen Schritt von mir zurück.

„Wollt ihr darüber reden?“, fragte sie und trat zwischen uns.

Ihr Blick traf meinen und lächelte mir mit ihren braunen Augen zu.

„Nein, ist schon gut.“, sagte Marek, doch ich wollte die Sache nicht abtun und fügte hinzu: „Außer, dass Marek und Vater heute Nacht ein unschuldiges Kind ermordet haben!“

Die grünen Augen meines Bruders glühten bedrohlich und ich wusste, dass es noch ein Nachspiel haben würde.

Entrüstet zog Mutter die Luft ein und sah ihren ältesten Sohn vorwurfsvoll an. Ihr Blick sprach Bände und Marek senkte schuldbewusst den Kopf.

„Erklär es mir, Marek“, sagte sie und mir gefror das Blut in den Adern, als ich ihre Trauer in ihrer Stimme hörte. Mutter empfand genauso wie ich. Sie konnte nicht verstehen, was in den Jahren mit ihrem Mann und ihrem Sohn passiert war, seitdem sie bei Leonard, der oberste aller Geflügelten, aufgestiegen sind und nun einen der höchsten Ränge genossen. War es die Macht, die unsere Familie so auseinandergetrieben hatte?

„Es war nötig. Wir waren der festen Überzeugung, sie sei der Nachwuchs der Seher und deshalb mussten wir sie auslöschen.

Es war ein kurzer und schmerzfreier Tod.“ Vater hatte unser Gespräch belauscht und trat nun zu uns, um seinen geliebten Sohn zu unterstützen.

„Trotzdem habt ihr kein Recht aus einer Vermutung heraus, diesen Menschen zu töten.“, rief ich, damit das Thema nicht unter den Tisch viel, wie schon so viele andere.

GeflügeltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt