4. Kapitel

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Bei meiner nächsten Therapiestunde erzähle ich Mrs. Finsk von Lukas und meiner Panikattacke. Sie hört mir bedächtig zu und sagt erstmal nichts. Mrs. Finsk macht immer alles sehr bedenklich. Sie hört bedächtig zu, sie macht sich in ihrer schönen Handschrift bedächtig Notizen und wenn sie etwas in den Computer eingibt, dann tippt sie auch bedächtig. Die Kinder- und Jugendambulanz befindet sich im Napa State Hospital, eine große Psychiatrie, deren Kosten aber zum Glück die Krankenkasse übernimmt. Ich war sechs Monate stationär hier, nachdem Mum und Dad herausgefunden hatten, dass mit mir irgendwas nicht stimmte. Meiner Meinung nach kam die Erkenntnis deutlich zu spät. Das Problem ist, dass sich Depressionen sich nicht so mit öffentlichen Symptomen wie Ausschlag oder Fieber ankündigt, sondern sich eher unmerklich anschleicht und dann zuschlägt. Man behauptet ständig „Es ist alles in Ordnung, mir geht's gut", obwohl es einem überhaupt nicht gut geht. Aber man denkt, dass es einem doch eigentlich gut gehen sollte, und fragt sich die ganze Zeit „Warum geht es mir bloß so mies?". Am Ende haben Mum und Dad einen Termin bei unserem Hausarzt für mich gemacht, der mich dann ins Napa State Hospital überwiesen hat. Ich war in keiner besonders guten Verfassung. Ehrlich gesagt kann ich mich kaum noch an die ersten Tage erinnern. Jetzt komme ich nur noch zweimal die Woche hierher. Wenn ich wollte, könnte ich auch öfter kommen und zum Beispiel Cupcakes backen. Aber ich habe hier schon circa 25 Milliarden mal Cupcakes gebacken, und zwar immer nach dem selben Rezept. Als ich Mrs. Finsk die ganze Hinter-dem-Vorhang-verstecken-Geschichte erzählt habe, betrachtet sie eine Weile die Kästchen auf dem Fragebogen, den ich zu Beginn der Stunde ausgefüllt habe. Das Schema ist immer das gleiche.

Fühlst du dich wie eine Versagerin? Ja,ständig
Hast du dir schon mal gewünscht du würdest nicht mehr existieren?
Ja ständig
 
Mrs. Finsk nennt die einzelnen Punkte auf diesem Blatt ,,Symptome". Manchmal frage ich mich: Soll ich einfach lügen und hinschreiben, dass alles super ist?. Aber dann tue ich es seltsamerweise doch nicht. Das kann ich Mrs. Finsk nicht antun. Wir hängen da gemeinsam drin. ,,Wie geht es dir mit dem was passiert ist?", fragt sie mit ihrer freundlichen, bedächtigen Stimme. „Ich habe das Gefühl festzustecken". Das Wort kommt heraus, bevor ich es überhaupt gedacht habe. Mir war nicht klar, dass ich das Gefühl habe, irgendwo festzustecken.
„Wie meinst du das?"
„Ich bin schon seit einer Ewigkeit krank".
Mrs. Finsk schweigt. „Aber die gute Nachricht ist, dass du es schon weiter geschafft hast und Fortschritte gemacht hast".
„FORTSCHRITTE?"
Ich sammle mich kurz und versuche anschließend, ruhig weiter zu sprechen. „Im September soll ich an eine neue Schule wechseln, dabei schaffe ich es ja nicht mal, auch nur mit anderen Leuten zu reden. Ich flippe aus, wenn jemand zu uns nach Hause kommt, den ich gar nicht kenne. Wie soll ich es denn überhaupt schaffen zur Schule zu gehen?. Wie soll ich überhaupt irgendetwas hinkriegen?. Was, wenn ich für immer so bleibe?".
Wie läuft eine Träne über die Wange. Wo zum Teufel kommt die jetzt her?!
Mrs. Finsk reicht mir wortlos ein Taschentuch. Ich hebe kurz meine Sonnenbrille an, um mir damit über die Augen zu wischen.
„Du wirst September bereit für die Schule sein. Hast du diese Woche deine Sonnenbrille schon mal abgenommen?", fragt sie. „Nicht oft"
Womit ich kein einziges Mal meine. Was ihr klar ist. „ hast du mit jemanden Blickkontakt aufgenommen?", fragt Mrs. Finsk. Ich antworte nicht. Meine Hausaufgabe war, es zu versuchen. Mit einem Familienmitglied. Nur ein Paar Sekunden pro Tag. Ich habe noch nicht einmal Mum davon erzählt. Sie hätte sonst ein totales Theater daraus gemacht.
„Zara?"
„Nein", murmelte ich mit gesenktem Kopf. Blickkontakt mit jemandem aufzunehmen ist eine große Sache. Allein bei dem Gedanken wird mir übel. Mein Verstand sagt mir, dass Augen nichts bedrohliches haben. Es sind kleine, harmlose Kugeln, die bloß einen winzigen Teil unseres gesamten Körpers ausmachen. Jeder von uns hat sie. Warum sollten sie mir dann Angst machen?
Aber ich hatte sehr viel Zeit, darüber nachzudenken, und wenn man mich fragt, werden Augen unterschätzt. Zum einen besitzen sie Macht. Sie verfügen über Reichweite. Selbst wenn man auf dreißig Meter Entfernung durch eine große Menschenmenge hindurch den Blick auf jemanden richtet, spürt derjenige, dass man ihn anschaut. Welcher andere menschlicher Körperteil ist dazu in der Lage?. Das ist geradezu eine übernatürliche Fähigkeit. Aber sie haben auch eine Sogkraft. Wenn man jemanden direkt in die Augen schaut, können sie einen innerhalb von einer Millisekunde die Seele heraussaugen. Augen durchdringen alles, und genau das macht mir so Angst. Es ist eine Weile still im Raum. Mrs. Finsk sagt nichts. Sie denkt. „ ich glaube ich habe eine Idee". Sie schaut zu mir auf. „ was würdest du davon halten einen Film zu drehen?". „Was?". Ich sehe sie ratlos an. Damit habe ich nicht gerechnet. Sondern mit einem Blatt Papier, auf dem meine nächste Hausaufgabe steht. „Einen Dokumentarfilm. Alles, was du dafür brauchst ist eine kleine Videokamera. Deine Eltern besorgen dir bestimmt eine. „Und was mache ich denn damit?"
Ich stelle mich absichtlich dumm und zeige Desinteresse, weil ich mich in meinem Inneren völlig durcheinander bringe. Ein Film. Niemand hat jeweils von einem Film gesprochen. Ist das jetzt die neue Alternative zu Cupcakes?
„ Ich halte das für eine gute Möglichkeit, um aus dem herauszukommen, indem du gerade feststeckst". Mrs Finsk zögert. „Um dahin zu kommen, wo du hinwillst. Am Anfang filmst du sozusagen als unbeteiligte Beobachterin. Du spielst Mäuschen. Ich versuche mir meine aufsteigende Panik nicht anmerken zu lassen. Das geht mir gerade alles zu schnell. „ Und nach einer Weile fängst du dann an, Leute zu interviewen. Könntest du dir vorstellen durch eine Kamera Blickkontakt mit jemanden herzustellen?". „ Ich weiß es nicht. Vielleicht".
„Prima. Mir ist klar wie beängstigend und schwer es sich für dich anfühlen muss. Aber ich glaube das wird ein großartiges Projekt für dich.
„ Was soll ich denn überhaupt Filmen?". „Egal alles was dir über den Weg läuft. Richte einfach die Kamera drauf. Dein Zuhause. Zeichne ein Portrait deiner Familie".
„ Klar".
Ich muss prusten.
„ Und das ganze kriegt dann den Titel: Einblicke in das harmonische Leben meiner liebevollen Familie"
„ Warum nicht?". Sie lacht. „Ich freue mich jetzt schon darauf, mir den Film anzugucken".

Einblicke in das harmonische Leben meiner liebevollen Familie - Filmskript-

Innen: 5 Rosestreet Close. Tag.

Kamera schwenkt durch eine unaufgeräumte Küche.

Zara
Okay. Willkommen bei meiner Doku. Das hier ist unsere Küche. Das da ist der Küchentisch. Arian hat sein Geschirr nicht abgeräumt, er streikt.

Nahaufnahme:
Blank gescheuerter Kieferntisch, auf dem eine benutzte Müslischale steht, ein mit Krümeln übersäter Teller und ein Glas Nutella, in dem ein Löffel steckt.

Zara
Das sind unsere Küchenschränke. Langsamer Kameraschwenk über eine Reihe Küchenschränke. Hochglanz.
Das ist bescheuert. Ich weiß nicht was ich filmen soll. Das ist das Fenster.

Okay, ich sollte mich wohl mal vorstellen. Ich bin Zara Blood und ich filme das alles weil
(Pause)
Ach egal. Mum und Dad haben wir diese Kamera gekauft. Gehen wir weiter nach oben.

Kamera zoomt an einen schwarzen Spitzen BH heran, der über dem Geländer hängt.
Der gehört Mum. Hmm. Vielleicht würde sie es eher nicht so gut finden, dass ich das filme. Kamera schwenkt zur einer Tür. Das ist Arians Zimmer, aber da drinnen stinkt es so bestialisch, dass ich nicht näher ran kann. Ich kann ja mal reinzoomen. Wow man kann den Gestank sogar sehen. Beeindruckend.
Kamera richtet sich auf eine angelehnte Tür.
Mum
Hast du mit Arian eigentlich schon mal ein Vater-Sohn-Gespräch geführt?
Dad
Nein hast du das jemals getan?
Mum
Ich habe ihm ein Aufklärungsbuch besorgt. Mit Abbildungen von...du weißt schon.
Dad
(klingt interessiert)
Ach ja ?was für Abbildungen?
Mum
Das weißt du ganz genau
Dad
Ich will, dass du mir sie beschreibst, langsam und mit französischem Akzent.
Mum
kichernd/streng
Hör auf!
Dad
Warum soll Arian den ganzen Spaß für sich alleine haben? 
Vater kommt aus dem Zimmer
Dad
Ah Zara was machst du da?
Zara
Ich filme für mein Projekt.
Dad
Ach ja stimmt. Liebling, Zara hat die Kamera laufen.
Mama erscheint nur mit Unterwäsche vor der Kamera. Als sie die Kamera entdeckt, fängt sie an zu kreischen und versucht, mit der Hand ihrer Blöße zu bedecken.
Dad
Das meinte ich mit Zara hat die Kamera laufen.
Mum
Ähm, bravo Schatz. Das wird bestimmt ein toller Film. Vielleicht warnst du uns das nächste Mal vor, wenn du gerade drehst?
(Wirft Dad einen Blick zu und räuspert sich)
Wir haben uns gerade über die...ähm...über den Konflikt im...nahen Osten unterhalten.
Dad
(nickt)
Im Nahen Osten, genau.

Beide schauen unsicher in die Kamera.

Schau mir in die Augen, ZaraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt