Nun sind einige Tage her. Auch wenn ich geistig noch immer in der Vergangenheit bin, spielt meine Gegenwart in der Schule ab.
Heute ist Freitag. Mein Körper brennt auf dem Stuhl der Klasse und ich spüre langsam wie mein Inneres zu Asche wird.
Ich muss mit Ahu reden. Sie kann uns retten. Sie muss mir alles erzählen. Nein, es reicht. Hör jetzt zu. Audiant. Konjunktiv Präsens Aktiv 3. Person Plural. Sie hat meinen Bruder nicht verraten. Ihr kann ich vertrauen. Diese Nacht hatte nur einen Augenzeugen. Das Geschehene hat nur sie gesehen. Mein linkes Bein zappelt wie verrückt und ich sehe raus aus dem Fenster. Schnee liegt auf dem Boden und schon bei diesem Anblick wird mein Körper eingeschüchtert. Am liebsten würde ich meine schweren Augenlider fallen lassen und schlafen für die Ewigkeit.
"Verda", spricht Frau Fischer. Ich öffne meine Augen und sehe ihren strengen Blick. Meinen Kugelschreiber nehme ich in die Hand und tue so als würde ich etwas wichtiges schreiben, dabei schrieb ich nur sechsmal "Ahu" hintereinander. Endlich! Endlich! Es klingelte und ich packe in Windeseile meinen Kugelschreiber und den Block in die Tasche. Mein Buch stecke ich in das Fach und renne aus dem Zimmer.
Ich höre wie meine Sitznachbarin "Verda, stell deinen Stuhl auf!" ruft. Nach sechs Minuten sitze ich in der Bahn und kaue an meinen Nägeln. Schneller! Schneller! Warum hälst du an? Na gut. Ich steige drei Stationen früher aus und fange zum Rennen an.
Mein Puls erhöht sich. Meine Lungen schreien nach Sauerstoff. Ich bin nicht sportlich. Kurz vor meinem Ziel verkrampft sich mein linkes Bein und hält mich ab. Ich lehne mich an das gelbe Gebäude hinter mir und greife zu meinem Brustkorb, welcher unnormal auf und ab geht. Dann schüttel ich mein Bein ab und gehe wieder los. Diesmal langsamer und beruhigter. Ich spüre wie gierig ich bin. Gierig nach der Wahrheit.
Ich klingel ungeduldig. Je länger ich stehe, desto mehr irre ich mich, desto dunkler wird es nämlich. Als ich enttäuscht nach Hause kehre, suche ich einen Ausweg. Was kann ich tun?
"Nerdesin sen?" (Wo steckst du?), fragt mich mein Vater liebevoll. Ich sehe an ihm vorbei, zur Uhr und merke, dass ich doch zu lange an Ahus Tür gestanden bin. Aus dem Nichts kommt mir plötzlich ein Gedanke. Ein Anwalt! Ich brauche einen guten Anwalt. Geh zur Seite, biologischer Vater.
"Verda!", schreit er und ich weiß eigentlich schon was mich erwartet, doch so stur ich bin, rede ich mir Positives ein und bleibe stehen. Er steht wieder vor mir und ich rieche seine Fahne. Mir wird schlecht, doch meinen starren Blick halte ich bei. Er wird nur kurz was quasseln, du nickst brav und gehst auf dein Zimmer. Bis auf das letzte tretet alles ein.
Er redet davon, dass ich wie meine Mutter sei und schreit lauthals. Ich nicke und mache mich auf den Weg in mein Zimmer, wie geplant, doch plötzlich spüre ich schmerzhaft die kalte Wand an meiner rechten Gesichtshälfte. Ich versuche mich erst gar nicht von seinem Griff zu lösen und höre mir weiterhin an, was für eine Schlampe meine Mutter gewesen sei. Nach seiner Rede lässt er mich endlich los und sackt zu Boden. Er beginnt lauthals zu weinen und versteckt sein Gesicht. Augen verdrehend gehe ich auf mein Zimmer. Immer das
Gleiche. Er kann noch immer nicht damit leben, wie lächerlich. Ich starte meinen Laptop. "Anwalt..günstig", gebe ich ein und lese ungeduldig die Ergebnisse. Ich muss lachen. Einen günstigen und guten Anwalt? Günstig oder gut meinst du, Verda.Tage vergehen. Neben diesem großen Problem habe ich ein weiteres großes Problem. Vielleicht ist dieses Problem doch größer als das andere Problem, jedoch kümmere ich mich garnicht um dieses. Nur ist meine Zeit begrenzt. Dieses Problem kann ich nicht aufschieben, wie alles andere, wie Schule, wie Vater. Sogar meinen Bruder kann ich kurz verschieben. Doch nicht dieses Problem. Auch wenn die Lösung offensichtlich ist, ist sie schmerzhaft.
Als ich von einem Schultag erschöpft nach Hause komme, sehe ich meine Tante, Semra, im Wohnzimmer. Ich habe Geburtstag, ist sie deswegen hier? Sieht aber nicht so aus. Angeekelt schaut sie mich an, von unten bis oben. Ich fühle mich durchschaut, nackt und entblößt.
"Orospu. Ich wusste es! Du-" (Schlampe), schreit sie mir ins Gesicht als sie vor mir steht. Panisch halte ich ihren Mund und sehe mich um. Sei still, verdammt! Gewaltsam löst sie sich und lacht ironisch.
"Abim yok " (Mein Bruder ist nicht da), sagt sie kopfschüttelnd. Erleichtert, aber auch nicht, sehe ich sie wütend an.
"Du bist die Tochter einer Schlampe. Was haben wir uns erwartet?", schreit sie lauthals. Ich verdrehe die Augen. Jetzt bin ich 18, Semra! Zu spät. Ich eile auf mein Zimmer und schnappe mir meinen gepackten Koffer, der seit 5 Tagen unter dem Bett versteckt ist.
Sie folgt mir und ist überrascht. Fragt mich, wohin ich will und zerrt an meinem Koffer. Dennoch schaffe ich es bis zur Haustür und entziehe mich ihrer Gewalt.
"Iyiki doğdum, Hâlâ " (Gratuliert sich selber zum Geburtstag), sage ich verbissen und verlasse die Wohnung.
"Wer ist der Vater", ruft sie plötzlich ängstlich und ich bleibe stehen. Um wen hat sie Angst? Ich lache und verlasse sie endgültig. Ich bin frei! Keine Semra, kein Vater und keine Schule mehr.
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Mauer des Schweigens
Mystery / ThrillerWie Sokrates schon sagte: "Die Mehrheit kann sich irren, beruhe also nicht auf diese. Lass dir das Denken nicht von anderen erzwingen." _ Alle Rechte vorbehalten!