Kurzgeschichten

Der Rest ihres Lebens

Ophelia fand sich nie schön.
Nicht ein einziges Mal in ihrem Leben.
Sie verabscheute ihr Spiegelbild und meidete es fotografiert zu werden.
In der Schule war sie es gewohnt als „hässlich" bezeichnet zu werden. Mit vor Scham geröteten Wangen lachte sie über die Kommentare. Sobald sie jedoch Zuhause war, weinte sie. Sie weinte sich all den Frust, all die Wut und all die Trauer die sich aufgespart hatten von der Seele. Danach ging es ihr kaum besser. Mit der Zeit gewöhnte sie sich an die Beleidigungen, trotzdem litt sie weiterhin darunter. Nie traute sie sich etwas zu erwidern oder auszusprechen wie sie sich in solchen Momenten fühlte.
Ihr Herz war schon lange gebrochen und Selbstbewusstsein besaß sie noch nie. Sich selbst zu lieben hatte sie nie gekonnt. Und doch verhielt sie sich weiterhin nett gegenüber ihren Mitmenschen.
Nie ließ sie ihren Frust an ihnen aus.

Ophelia war mit Freunden unterwegs. Lachend liefen sie durch die Straßen von Wien. Es war ein warmer Tag gewesen, doch mittlerweile war es Abend geworden und die Temperaturen sanken. Angekommen an einem großen Platz, staunten sie über die Schönheit der Architektur.
Lilia, ihre damalige beste Freundin, schlug vor ein Gruppenbild machen zu lassen. Sie war nicht begeistert, doch sie stimmte zu. Was hätte sie sonst tun können.
Sie stoppten einen fremden Mann. Er war jung und besaß ein umwerfendes Lächeln. Mit einem schüchternem Nicken stimmte er zu und nahm den Fotoapparat von Lilia. Er zählte runter von drei. Er hatte eine angenehm tiefe Stimme, die fast schon melodisch klang. Ophelia fand ihn wundervoll.
Er schoss ein Foto und reichte den Apparat Lilia. Sie stellten sich alle gespannt um sie herum, um das Foto zu begutachten. Kichernd redeten sie über das Bild. Ophelia fand sich, wie jedes Mal, schrecklich und teilte dies den anderen mit. Diese stießen sie spielerisch an und schüttelten den Kopf. So wie jedes Mal. Keiner verneinte je wirklich diese Aussage.
Plötzlich richtete der fremde Mann seinen Blick genau auf Ophelia.
„Ich finde Sie wunderschön".
Und zum ersten Mal in ihrem Leben, sah Ophelia wie der Rest ihres Lebens aussah.