Kapitel 101

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Mario's Sicht:

Ohne groß weiter nachzudenken, rannte ich über die Straße zu der Gasse, wo Schiebler gerade meine Freundin verschleppt hatte. Ein Auto musste scharf bremsen, worauf der Fahrer aufgebracht aus dem Autofenster rief. Ich ignorierte ihn. Manu stieß wenige Sekunden später zu mir. "Wo hat er sie hingebracht?" fragte er unruhig. "Woher soll ich das wissen?! Siehst du sie hier irgendwo?!" fuhr ich ihn an. Im nächsten Moment bildete ich mir ein, ganz entfernt Nell's Stimme zu hören. Und sie rief um Hilfe. Mir gefror das Blut in den Adern. Anscheinend hatte ich mir das auch gar nicht eingebildet. Manu's Blick schnellte zur Seite, wo eine schwere Tür in die Hauswand eingefasst war. Er drückte die Klinke runter. Nichts. Ich versuchte mich ebenfalls gegen die Tür zu stemmen, aber sie bewegte sich keinen Zentimeter. Manu war kurz vor dem Verzweifeln, das sah man ihm an. Und würde ich jetzt die Gedanken passieren lassen, die sich in meinem Kopf bildeten, würde es mir genauso gehen. Ich zuckte zusammen, als die Tür plötzlich doch aufsprang. Manu und ich stürmten den kleinen Kellerraum. Nichts. Der Raum war leer. Manu wandte sich von mir ab und legte den Kopf in die Hände. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas im düsteren Licht aufblitzen. Ich tastete auf dem Boden danach, hob es auf und erschrak umso mehr, als ich erkannte, was es war. Die Kette mit dem Verlobungsring. Im selben Moment drehte sich Manu um und starrte wie hypnotisiert auf die Kette. "Nein, bitte nicht..." nuschelte er vor sich hin. Die Wut stieg in mir hoch. Ich stieß Manu ein Stück von mir weg. "Siehst du, was du davon hast?! Ich wusste, dass das nicht gutgehen kann!" motzte ich ihn an. "Woher sollte ich denn wissen, dass sowas passiert?!" entgegnete er mit schuldigem Blick. "Verdammt, Manu! Er hat sie mitgenommen! Er wird sie vergewaltigen! Und das nicht nur einmal!" machte ich ihm klar. "Ja, okay wir haben es verkackt!" meinte er aufgebracht und warf die Arme in die Luft. "Nein, du hast es verkackt! Ich war von Anfang an dagegen!" rechtfertigte ich mich. Als Manu nichts sagte, ging ich zur Tür. "Ich geh jetzt zur Polizei. Und sollte ich sie überhaupt je wieder zu Gesicht bekommen, bist du schuld, dass sie uns Vorwürfe macht! Und das wird sie, wir haben ihr Leben mit einer Sekunde zerstört." zischte ich. Manu starrte mich weiter nur fassungslos an. Also riss ich die Tür auf. "Ey, du!" rief es. Es kam aber aus dem Kellerraum. Und die Stimme kam mir bekannt vor. Trotzdem lief ich weiter. Ich hörte Schritte hinter mir, kurz darauf wurde ich an der Schulter herum gerissen. Ich starrte geradewegs in blaue Augen. "Du bist doch der Freund meiner Tochter, oder?" fragte Herr Neuer mich. Ich brachte nur ein Nicken zu Stande, als Manu hinter seinem Vater auftauchte. "Deine Tochter? Du hast sie geschlagen und beleidigt und ihr die Vaterschaft gekündigt und jetzt ist sie auf einmal deine Tochter?!" wollte er wissen. "Ich weiß, Manuel. Lass uns das bitte oben klären. Elena ist auch da." erklärte er. "Sie hasst es, wenn man sie so nennt." murrte Manu. "Geht's ihr gut?" warf ich dazwischen. Es war mir egal, wer da gerade vor mir stand, ich wollte nur wissen, was mit Nell war. Und wo ich Schiebler fand, damit ich ihn zusammenschlagen konnte. "Überzeugt euch selbst." meinte Herr Neuer und legte Manu und mir je eine Hand auf den Rücken, um uns wieder ins Haus zu schieben. Manu wich aus. "Fass mich nicht an!" zischte er. Sein Vater senkte den Blick und führte uns nach drinnen. Wir liefen in den zweiten Stock, wo Herr Neuer wohl unsere Auseinandersetzung gehört und uns dann aufgesucht hatte. Er ließ uns in die Wohnung. "Wo ist sie?" fragte Manu kalt. "Sie hat sich auf die Gästecouch verzogen." antwortete er. Manu blieb stumm stehen, bis sein Vater auf eine Tür zeigte. Manu ging darauf zu. "Manuel, dieser Mann ist ziemlich weit gegangen. Erschreck sie nicht." riet Herr Neuer ihm. "Ich glaube, das brauche ich mir von dir nicht sagen zu lassen." entgegnete Manu und öffnete die Tür. Plötzlich war es totenstill im Raum. "Es tut mir wirklich alles sehr leid, was ich getan habe. Vielleicht hasst mich Elena nicht mehr ganz so sehr, wenn ich sie sozusagen gerettet habe." meinte er. Ich fühlte mich unwohl in seiner Gegenwart. "Sagen Sie das nicht mir. Nell ist Ihre Tochter und Manu Ihr Sohn." sagte ich. "Nell? So will sie genannt werden?" bohrte er nach. "Sie haben echt keine Ahnung vom Leben Ihrer Kinder, oder?" erwiderte ich kalt. Er blickte nur zu Boden. Die Tür, durch die Manu eben verschwunden war öffnete sich. "Sie will dich sehen." erzählte Manu und forderte mich damit auf, einzutreten. Ich warf Herrn Neuer noch einen Blick zu, bevor ich an Stelle von Manu das Zimmer betrat. Nell saß zusammengekauert auf der besagten Couch und starrte ins Nichts. Als ich näher trat, blickte sie auf. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, vor allem weil ich ja keine Ahnung hatte, wie es ihr ging. Ich begutachtete sie einen Moment lang. Sie war blass und hatte eindeutig geweint. Sichtbare Verletzungen hatte sie keine. Ich machte einen weiteren Schritt. Sie stand jetzt auf und lief mir entgegen, um sich dann eng an mich zu schmiegen. Ich atmete erleichtert aus und erwiderte die Umarmung. "Es tut mir so leid." flüsterte ich. "Das hat Manu auch gesagt, waren aber nicht die ersten Worte, die ich von dir erwartet hätte." nuschelte sie an meiner Brust. Ich überlegte kurz, was sie meinte. "Ich liebe dich, Nell." sagte ich also. Sie atmete tief durch. "Ich dich auch." "Erzählst du mir, was passiert ist?" bat ich sie. Sie nickte, sagte mir aber stumm, ich dürfte sie dabei nicht mehr loslassen. Kurzerhand nahm ich sie im Brautstyle auf die Arme und trug sie zur Couch, wo ich sie seitlich auf meinem Schoß runterließ. Sie lehnte an meiner Brust und zupfte gedankenverloren am V-Ausschnitt meines Shirts. "Er hat uns wieder gestalkt. Er wusste, dass du und Manu Bescheid wisst und irgendwo in der Nähe seid." begann sie. Dann machte sie eine Pause. Ich wusste nicht, ob sie wollte, dass ich das kommentierte, aber mir fiel sowieso nichts ein. Diese Vermutung war falsch. Sie hatte nur nichts gesagt, weil bis zum Schlimmen Teil nichts mehr passiert war. "Er hat mich auf den Boden gezwungen und sich auf mich gesetzt... Seine Hände..." berichtete sie stockend. Ich spürte ihre Tränen an meiner Halsbeuge und auf der anderen Seite das Zupfen am Stoff, das nervöser wurde. "Wo?" fragte ich nur, obwohl das eigentlich sinnlos war. Sie atmete zitternd ein. "Stellen, die eigentlich nur du berühren darfst." antwortete sie kaum hörbar. Ich schluckte. Es war nicht gerade schön, von seiner eigenen Freundin die Missbrauchserlebnisse zu hören. Noch schlimmer war aber die Vorstellung dazu. Dieser Typ war krank. Aus der Hysterie heraus hatte ich plötzlich das Bedürfnis zu lachen. Zum einen, weil er Nell schon mehrmals fast vergewaltigt hatte und durch irgendetwas daran gehindert wurde und zum anderen, weil ich es als Ironie des Schicksals empfand, dass zuvor schon ihre eigene Mutter diese Erfahrung machen musste. Vielleicht hatte sich auch deswegen ihr Vater so verändert. Ich hatte Nell's Mutter nicht gekannt, aber war sie nur annähernd so schön und hatte einen solchen Charakter wie ihre Tochter, musste sie ein toller Mensch gewesen sein. Möglicherweise brachte das sogar Herrn Neuer dazu, seine Kinder zu akzeptieren. Durch Nell's Schluchzen wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich streichelte vorsichtig ihre Seite, bis sie plötzlich ein leises 'Aua' von sich gab. "Was ist?" wollte ich wissen. Sie zögerte. "Ich will nicht, dass du das siehst." lehnte sie ab. Ich hob ihr Kinn an, damit sie mir in die Augen sah. "Du hast keinen Grund, dich vor mir zu verstecken. Ich bin dein Freund." sagte ich. Sie biss sich unsicher auf die Unterlippe. Dann befreite sie sich aus meinen Armen. Sie stand vor mir und zog vorsichtig ihren Pulli aus. Ich musste erneut schlucken. Ihr Körper war mit blauen Flecken übersät. An den Hüften konnte man beinahe Schieblers Hände ausmachen. Am meisten erschreckten mich aber die Flecken unterhalb ihrer Brüste. Bei der Vorstellung, wo er sie tatsächlich angefasst hatte, kam mir der Würgereiz hoch. Direkt auf dem Brustbein hatte sie zudem einen Knutschfleck, der einfach nur noch brutal aussah. Sie bemerkte meinen Blick und stellte sich vor den Spiegel im Raum, um zu sehen, was mich so erschreckt hatte. Sie berührte vorsichtig den Fleck. Dann brach sie zusammen. Sie setzte sich auf den Boden und weinte bitterlich. Diese Erinnerung an Schiebler hatte ihr endgültig den Rest gegeben. Ich fühlte mich so nutzlos. Ich nahm ihren Pulli, den sie über die Sofalehne geworfen hatte und ging zu ihr. Bevor ich ihr den Pulli aber anbot, fiel mir auf, dass dieser ebenfalls keine schönen Erinnerungen mit sich brachte. Ich warf den Pulli wieder zur Seite. Dann zog ich mein eigenes Shirt aus, um es ihr einfach anzuziehen. Sie zog die grauen Ärmel bis zu den Handflächen vor und kuschelte sich in den hochwertigen, weichen Stoff. Ich griff nach ihren Händen und zog sie hoch. Dann führte ich sie zur Couch, auf die ich selbst mich legte. Nell legte sich auf mich, mit dem Kopf auf meiner Brust und schien so nach wenigen Minuten eingeschlafen zu sein. Ich wunderte mich immer wieder, wie so ein Dilemma eine eigentlich starke Frau so klein machen konnte. Sie war extrem erschöpft und einfach nur noch schwach. Schon wieder war sie ihm knapp entwischt. Nur leider er auch uns. Mit diesen Gedanken fielen auch mir die Augen zu.

Liebe stirbt nicht {Mario Götze u.A.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt