Gespielt überrascht keuche ich auf und rolle mich, als mein Trainingspartner von mir ablässt, auf den Rücken, um direkt in das neckisch grinsende Gesicht des jungen Mannes namens Anatolij zu blicken. „War wohl nichts, Süße", neckt er mich amüsiert und zieht damit die Blicke der anderen Rekruten auf uns. Einige fangen ebenfalls an zu kichern, andere mustern mich noch argwöhnischer, als sie es eh schon getan haben, als ich hier reingeschneit bin.
Aufgebracht stampft unser Trainer, Nikita Danilowitsch, auf uns zu und zerrt mich unbarmherzig auf die Beine. „Los, hoch mit dir! Nochmal und streng dich gefälligst an!", keift er mich an und stellt sich mit verschränkten Armen neben uns, um uns beim Üben der Sequenz zu beobachten.
Meine Ausbildung wird am Montagmorgen ganz offiziell mit meiner ersten Nahkampfstunde eingeläutet. Selbstverständlich wird mir das große Glück zuteil, den Kursbesten, besagten Anatolij, als Partner zugeteilt zu bekommen, denn ich soll ja so schnell wie möglich aufholen und so weiter und so fort. Wie gehabt, schalte ich bei der Hälfte der Ausführungen auf Durchzug. Nun schwirren mir leider Dimitrij Fjodorowitsch' Worte von gestern Abend noch immer im Kopf herum und mir ist klar, dass ich mich zurückhalten muss, auch wenn ich Anatolij – oder Tolik, wie ihn hier alle nennen – ganz gerne das alberne Grinsen aus dem Gesicht prügeln würde.
Ich hatte vier Jahre lang so gut wie jeden Tag Nahkampfunterricht. Auch wenn das schon eine geraume Zeit her liegt, so ist Kämpfen dennoch wie Fahrradfahren – wenn man es einmal gelernt hat, vergisst man es nicht. Außerdem hatte ich im Außenposten zumeist genug Übung. Irgendwie muss man sich ja schließlich Respekt erarbeiten. Das ändert jedoch nichts am Befehl, mich zurückzuhalten, und so ziehe ich, pflichtbewusst wie ich bin, den Spott meines gesamten Jahrgangs auf mich.
„Keine Sorge, ich werd' dich schon nicht so hart angehen", säuselt Anatolij zwinkernd, was unser Trainer mit einem wütenden ‚Konzentration!' quittiert. Der dunkelhaarige, stämmige Rekrut stürmt dann auch schon wieder auf mich zu.
Ziel der Übung ist es, den Angreifer auszuschalten, bevor er einen selbst auf die Matte befördert. Tatsächlich würden mir so einige Möglichkeiten einfallen, um ‚Tolik' aufzuhalten – verschiedene Hebelgriffe, Tritte, sogar ein Wurf würde ohne Weiteres gelingen. Zwar bin ich mit meiner Körpergröße von etwa 1,75 m nicht gerade klein, aber Anatolij überragt mich nochmal um etwa einen Kopf und ist selbstverständlich deutlich kräftiger als ich. Somit kommt er sich natürlich deutlich überlegen vor und aufgrund seiner Arroganz achtet er kaum auf seine Verteidigung.
Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als seinen ersten Angriff eher halbherzig abzuwehren und mich spätestens beim Dritten erneut auf die Matte fallen zu lassen. Denn wenn ich gegen den angeblichen Kursbesten schon in meiner ersten Stunde gewinne, wie soll ich da noch als mittelmäßig durchgehen? Ich könnte Leutnant Orlov umbringen.
Mit dieser nervigen, selbstsicheren Überlegenheit hockt Anatolij sich wieder neben mich, bietet mir diesmal jedoch die Hand an, um mir beim Aufstehen zu helfen. „Kopf hoch, Süße, das war schon etwas besser", zwinkert er mir zu. Dieses ‚Süße' treibt mich allmählich zur Weißglut. Alles in mir schreit mich geradezu an, dass ich mir diese Beleidigung nicht bieten lassen sollte und dass mir dieser Idiot Respekt zu zollen hat.
Allerdings kommt mir auf einmal schon wieder der unbekannte SS-Offizier in den Sinn – wie so oft, seit ich hier bin. Es würde mir nichts bringen, wenn ich Anatolij jetzt mit einem Tritt gegen das Fußgelenk zu Boden befördere. Vielleicht einen kurzen Moment der Befriedigung, ja – aber auch eine Menge Ärger von meinem Führungsoffizier. Also setze ich eine niedergeschlagene Miene auf, ergreife seine Hand und lasse mich auf die Beine ziehen. „Danke", murmle ich verschämt und senke betreten den Blick.
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Strelok - Die Schützin
Historical FictionEine alternative Geschichtsschreibung: 1947 unterzeichnen das Dritte Reich und die Sowjetunion den Waffenstillstand von Moskau, womit der Zweite Weltkrieg in Europa ein Ende findet. Im Februar 1964 wird die 21-jährige Elisabeth in Sibirien als Agent...