Misteln und keine Küsse

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Frank stapfte neben Hazel her durch den Wald. Seit Stunden schon waren sie unterwegs, mehr oder weniger ziel- und planlos. Sie hatten das Haus und die Umgebung nach Spuren vom Verbleib von Hazels Mutter untersucht. Jedoch vergeblich. Dann hatten sie beschlossen, dem großen Waldweg zu folgen, in der Hoffnung vielleicht jemanden zu treffen, der ihnen helfen konnte. Bis jetzt war das nicht passiert. Sie waren einem Reh begegnet, mehr nicht. Mittlerweile war Frank dabei, die Hoffnung aufzugeben, aber er wollte es nicht. Um Hazels Willen. Immerhin war es ihre Mutter und sie hatte ihm geholfen. Also musste es doch einen Weg geben, ihr zu helfen. Und genau in diesem Moment sah er etwas auf dem Weg. Er kniete sich nieder um zu sehen, was es war. Hazel bemerkte, dass er nicht weiterging. "Was hast du da?"
Er musterte das Etwas in seinen Fingern. Es war eine matte, weiße Kugel. "Eine Perle, denke ich. Aber ich weiß nicht, wie sie hierher gekommen ist."
Hazel kniete sich neben ihm und musterte die Perle mit ihren aufmerksamen, goldenen Augen. "Nein, das ist keine Perle. Das ist eine Mistelbeere."
"Achso. Dann ist es wohl nichts besonderes."
Er ließ die Beere wieder fallen und stand auf, doch Hazel packte ihn am Arm. "Warte mal..."
Sie deutete auf den Weg vor ihnen. Noch mehr Mistelbeeren lagen in regelmäßigen Abständen darauf, auch hin und wieder einzelne Zweige und Blätter von Misteln. "Weißt du, wie man Misteln noch nennt?"
Er schüttelte den Kopf.
"Hexenkraut. Meine Mutter ist eine Hexe", sie sprang auf. "Das muss ein Hinweis sein!"
Sie sah Frank begeistert an. "Ich weiß ja nicht", murmelte er. "Wie sollten trotzdem vorsichtig sein."
Doch sie war voll neuer Energie, lief voran, ohne Rücksicht auf ihn zu nehmen, immer den Beeren nach. Mit der Zeit wurden sie spärlicher, als hätte wer auch immer sie verstreut hatte langsam keinen Vorrat mehr. Doch Hazel ließ sich nicht beirren und folgte ihnen raschen Schrittes. Frank war mittlerweile außer Atem, doch sie dachte nicht daran langsamer zu werden. Und dann endete die Spur plötzlich. Hazel sah sich verzweifelt um, suchte in allen Richtungen, doch es gab einfach keine Beeren mehr. Enttäuscht drehte sie sich zu Frank um. Er konnte sehen, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. "Wo ist sie?", schluchzte sie.
Er ging zu ihr, nahm sie in die Arme und drückte sie an seine Brust. "Wir werden sie finden. Versprochen."
Sie schluchzte erneut, doch sie entspannte sich langsam in Franks Armen. "Ja. Ja, das werden wir", hauchte sie. Dann löste sie sich kurz von ihm. "Danke."
Er lächelte zu ihr hinunter. "Ist doch selbstverständlich."
"He, ihr da!"
Eine Stimme ließ die beiden auseinanderstolpern. Ein Satyr stand am Rand der Lichtung. "Oh, 'tschuldigung, ich wollte nicht stören."
"Schon gut", erwiderte Frank freundlich. "Wer bist du? Können wir helfen?"
"Ich bin Grover Underwood und eigentlich brauchen wir keine Hilfe. Wir suchen nur das Abenteuer, wenn ihr versteht."
"Wir?", fragte Hazel verwirrt.
"Thalia? Ich hab zwei Leute aufgestöbert!"
Noch jemand brach aus dem Unterholz hervor. Ein Mädchen, auch wenn Frank das erst auf den zweiten Blick erkannte. Sie hatte kurze schwarze Haare und trug Hosen, doch ihr Gesicht verriet sie. Sie hatte leuchtend blaue Augen und Sommersprossen und ihre Züge waren weiblich. Um die Schulter trug sie Bogen und Köcher, genau wie Frank, was sie ihm sofort symphatisch machte. "Das ist Thalia", erklärte Grover.
"Hieß so nicht die Prinzessin, die 100 Jahre schlafen sollte?", rätselte Hazel.
"Genau. Abe jetzt bin ich zum Glück wieder wach."
"Du sagtest ihr sucht Abenteuer?", fragte Frank.
Die beiden nickten.
"Dann könnt ihr euch ja uns anschließen. Wir ermitteln gerade in Sachen Entführung. Ich bin übrigens Frank und das ist Hazel."
"Entführung?" Thalia war sofort hellhörig geworden.
"Hazels Mutter ist spurlos verschwunden. Und so, wie es in der Küche ausgesehen hat, war das kein freiwilliger Abgang. Außerdem haben wir eine Spur aus Mistelbeeren gefunden, aber die endet hier leider." Er deutete auf die letzten beiden Beeren.
"Ist deine Mutter irgendwie wichtig? Und woher wisst ihr, dass die Beeren von ihr sind?", fragte Thalia nun Hazel.
"Sie ist eine Hexe, aber wir leben einsam irgendwo im Wald. Und das mit den Misteln war nur eine Vermutung."
Thalia kniff die Augen zusammen. "Wer würde eine Hexe entführen?"
Grover zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Aber ich weiß, wie wir herausfinden, ob die Spur von ihr ist." Er stieß einen schrillen Pfiff aus.
Aus einer kleinen Birke am Wladrand löste sich ein Mädchen. Sie hatte durchdringend grüne Augen, und lange, schwarze Haare mit weißen Strähnen. "Was soll das, Satyr?"
"Tut mir leid, ich hätte nur eine wichtige Frage."
Die Dryade verschränkte genervt die Arme. "Schieß los."
"Ist hier zufällig kürzlich eine Hexe vorbeigekommen?"
"Eine Hexe? Ja, ich erinnere mich. Vor kaum einer Stunde. Sie wurde von einem riesigen Tier mitgeschleppt. Hat überall Misteln verstreut." Missbilligend starrte sie auf die Beeren am Boden. "Ich hasse Misteln."
"Und in welche Richtung ist sie verschwunden?"
Die Dryade deutete nach Osten. Die vier sahen sich an, dann liefen sie los. "Danke!", rief Grover der Dryade noch zu, bevor sie im Wald verschwanden.

Helden des MärchenwaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt