Das Märchen vom Lied des Todes
Vor langer Zeit, da lebte mitten in einem Wald eine Frau mittleren Alters mit ihrer Tochter. Die Frau war ‚Jägerin von Beruf', wie sie immer sagte, denn sie liebte das Zusammensein mit den Tieren und den Umgang mit der Natur. Oft unternahm sie gemeinsam mit ihrer Tochter stundenlange Spaziergänge, um dem Kind die ganzen Wunder ihrer Umgebung beizubringen. Manchmal lagen sie sogar nachts einfach auf einer Lichtung, die groß genug war, dass man ein ganzes Stück vom Himmel sehen konnte und schauten dem Mond und den Sternen zu. Und wenn zufällig eine Sternschnuppe am Himmelszelt entlang strich, da sagte sie zu dem Mädchen: „Mein Schatz, du darfst dir etwas wünschen."
Die beiden wohnten in einem alten Holzhaus, das von stabil gebaut war, aber angenehm urig und ansprechend aussah. Wäre jemand vorbeigekommen, dann wäre es ihm oder ihr nicht schwergefallen zu glauben, dass dort jemand lebte. Das Haus war verhältnismäßig groß. Es hatte mehrere Räume wie Ess-, Schlaf- und Badezimmer, ein paar Stauräume und ein Arbeitszimmer, wo die Mutter einen Großteil ihrer Jagdutensilien aufbewahrte. Mittendrin stand ein großer, edler Schreibtisch aus Mahagoniholz, wo sie ihre Ausflüge plante und niederschrieb. Denn irgendwann, so sagte sie immer, wollte sie ein Buch veröffentlichen. Und zwar nicht irgendeines, sondern eines, wo sie alle Tier- und Pflanzenarten, die jemals existiert hatten, darstellen und für die Nachwelt festhalten konnte. Das war ihr großes Ziel.
Und dann gab es da noch einen Raum, der anders war als die Anderen, da er sehr düster und verlassen wirkte. Und solange das Kind denken konnte, war er verschlossen. Es fragte zwar oft neugierig: „Mama, was ist mit dem Raum? Warum ist er immer verschlossen? Und warum sieht er so düster aus?" Aber die Mutter sah das Kind dann immer nur streng an und ermahnte es eindringlich: „Meine Tochter, liebstes Kind, mach dass das Böse nie gewinnt", drehte sich um und ging wieder ihrem Alltag nach.
Die Mutter sah selbst beim Jagen immer sehr elegant aus in ihren oft grünen, selbstgestrickten Wollpullovern, die ihre schlanke Figur noch unterstrichen. Und die blonden, meist offen getragenen, schulterlangen Haare ergänzten das für ihr Alter sehr jugendhafte Äußere. Während das Kind immer lange, schlichte weiße Kleider trug, die zu ihren ebenfalls langen, dunkelblonden Haaren passten.
Irgendwann, als das Kind ein wenig älter war, dachte es, dass es bereits den ganzen Wald kennen würde. Doch eines Tages kamen sie an eine Stelle, die sie noch nicht kannte. Auf einmal standen sie an einer Lichtung, von der aus nur ein sehr alter und düsterer Pfad weiterführte. Plötzlich wurde die Mutter unruhig, was das Kind erst nicht registrierte. Es stand auch ein Wegweiser da, der sehr alt und instabil aussah. Das Kind ging darauf zu und versuchte die Aufschrift zu lesen.
„Was steht da, Mami?" fragte sie neugierig und musste die Augen zusammenkneifen, um gegen die blendenden Sonnenstrahlen etwas sehen zu können.
„Liebes, bitte komm sofort da weg."
Aber das Kind ging näher heran und musste sich bemühen, die bereits vergilbte Aufschrift zu entziffern.
„MUSIKPARADIES - EINTRITT NUR FÜR KINDER"
stand dort in einer alten Runenschrift, die das Kind noch nie gesehen hatte. Und darunter etwas kleiner:
„Nur wenn du triffst den Ton, den rechten, bist du eine von den Echten."
Die Tochter fing aufgeregt an zu betteln: „Ein Musikparadies. Oh, wie toll. Mami, wollen wir da hin? Von so etwas habe ich schon immer geträumt." „Nein!" sagte die Mutter eindringlich. „Das ist nichts für Dich. Wir drehen jetzt um und gehen nach Hause.
„Ach, bitte, Mami. Ich würde so gerne mal richtig musizieren." „Nein, mein Kind. Wir drehen jetzt um und gehen wieder nach Hause! Hast du mich verstanden?"

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Das Märchen vom Lied des Todes
Short StoryEine Frau und ihre Tochter leben allein im Wald... . Wirklich ganz allein? Meine aktuellste Kurzgeschichte. Es geht um Heimat, die Bedeutung von Familie und was wirklich zählt im Leben.