Kapitel 6

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"Salem! Aufwachen, wir sind zuhause, du bist nicht tot, deine Schwester fährt besser als du." Spätestens jetzt war ich wach und funkelte Noël wütend an. Dieser Blödmann hatte mich mit so einem Mist wachgekriegt? Ich war enttäuscht von mir selbst und von meiner Standfestigkeit, stieg dann aber doch aus dem Auto aus und umarmte ihn und Jake zum Abschied müde. Die beiden wohnten direkt nebenan, also mussten Mum und Dad sie nicht noch irgendwo hinfahren. 

Ich selbst lief ohne Umschweife nach oben in mein altes Zimmer, legte mich mit meinen Klamotten ins Bett und schlief bis zum nächsten Morgen beziehungsweise war es eher Nacht als Eras Wecker klingelte und mich aus meinem dringend benötigten Schlaf riss. Ich sah auf meinen eigenen. 5:45 a.m. Ich stöhnte, rollte mich auf die andere Seite, drückte mir das Kissen über die Ohren und versuchte noch weiterzuschlafen. Doch meine liebe kleine Schwester hatte ganz andere Pläne. Sie weckte mich absichtlich und hatte beschlossen, dass wir heute Klettern fahren würden. Ich wollte ihr sagen, dass ich dann wahrscheinlich umfiel, aber ich kannte meine kleine Schwester besser. Sie würde kein Nein akzeptieren. Sie war genauso stur wie alle in unserer Familie.

Einen letzten Versuch wagte ich, indem ich mich wieder umdrehte und mich unter meiner Bettdecke verkroch, doch es war zwecklos. Müde wie tausend Mann tappte ich ins Bad, machte mich dort ein wenig frisch, rasierte mich und zog mich um, dann ging ich wieder zu Era, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und durchsuchte dann das ganze Haus nach unseren Kletterausrüstungen. "Wie lange Seile?" fragte Era und ich schrieb "24 Yards" auf einen Zettel, woraufhin Era die passenden Seile raussuchte und dann erwartungsvoll vor mir stand.

Nachdem wir ausgiebig gefrühstückt hatten, ein Lunchpaket eingepackt hatten und uns geeinigt hatten, wo wir hinfuhren, trug ich die beiden Rucksäcke ins Auto. Wir würden mit dem Ford Edge fahren, der packte auch ein paar steilere Stücke berghoch und bergab. Mittlerweile kribbelte es mir schon ein wenig in den Fingern, endlich wieder klettern zu gehen, zwei Monate hatte ich lediglich das nötigste an Sport gemacht, da meine Begleiter ziemliche Sportmuffel waren und ich keine Chance hatte, sie zu einem Trip in einen National Park oder so zu überreden. Faul blieb eben faul.

Era setzte sich bereits auf den Fahrersitz, wo ich sie sofort wieder runterwarf mit einem strengen Blick und dann fuhr ich auch schon los, in Richtung der North Georgia Mountains, wo wir den Tag über klettern und wandern würden.

Da die Stille, die meiner Psychose geschuldet war, nach einigen Minuten bereits erdrückend genug war, um mich sichtlich unwohl zu fühlen, kramte ich eine CD aus dem Handschuhfach. Sie war zwar alt und schon oft gehört, doch wann immer ich sie hörte, wusste ich, dass ich zuhause war und dass sich einige Sachen einfach niemals änderten. Zum Beispiel, dass Era das zweite Lied immer übersprang und sie sich natürlich immer durchsetzte.

Lächelnd bewegte ich mich zu dem Beat von „The Real Slim Shady“ und begegnete Eras durchdringendem Blick aus dunkelblauen Augen. Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu sagen, doch ich schluckte es wieder runter, zog entschuldigend den linken Mundwinkel hoch und richtete meinen Blick dann wieder auf die Straße, die allmählich hügeliger und kurviger wurde.

Bis zu unserem Ziel brauchten wir noch eine gute Stunde, wenn es gut voranging, doch auf dem letzten Stück stauten sich meist die Autos der schaulustigen Touristen, die die Aussicht genießen wollten und mit ihren Plastikflaschen und Alufolien die Flora und Fauna zerstörten. Mehr als einen verachtenden Blick brachte ich allerdings nie zustande, wenn ich einen Touri sah, der seinen Müll einfach in die Natur warf.

„Mann, Salem, mach‘ diese Scheiß-Musik aus.“ Das war doch mal ein schön abruptes Ende eines Gedankens, nicht? Der zweite Song hatte begonnen. Tupac’s „Old School“, eines meiner Lieblingsstücke aus „Me against the world“ wollte meiner kleinen Schwester partout nicht gefallen. Mit einem Seufzen quittierte ich ihre Aufforderung und kam ihr schlussendlich nach, woraufhin Jared Letos Stimme aus den Lautsprechern erklang und Bury Me schrie.

„Salem, denkst du eigentlich auch manchmal darüber nach, wie es wohl für dich wäre, sprechen zu können?“ Sie drehte die Musik leiser und sah mich scheu an. Da ich diesen Blick nicht gewohnt war, wusste ich zunächst nichts damit anzufangen, doch dann fiel mir auf, dass sie sich in die äußerste Ecke ihres Sitzes verkrochen hatte. Sie hatte Angst vor mir.

Um sie zumindest ein bisschen zu beruhigen, strich ich ihr über die Wange und fuhr rechts ran, damit ich ihr antworten konnte. „Bitte schlag mich nicht, Salem, ich dachte nur…“ Dieser Satz reichte, um Tränen in meinen Augen zu spüren. Ihr verängstigter Ausdruck ließ sie dann über meine Wangen laufen.

Ich rutschte zu Era rüber und umarmte sie fest. „Warum denkst du, dass ich dich schlagen würde?“ flüsterte ich und unterdrückte den Würgereflex so gut es ging, schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, herunter und sah Era aus dunkelblauen Augen traurig an.

„Ich… ich weiß es nicht, Salem, ich weiß nicht, wie du auf solche Fragen reagierst… Du bist immer so ein verschlossener Mensch, auch wenn du schreibst. Du gibst nur ganz selten etwas über dich preis.“ Ein leises Schluchzen, das aus ihrer Kehle drang, ließ sie verstummen und ich schlang die Arme um sie, hielt sie fest an mich gedrückt und schluckte nochmals. „Ich würde dich niemals schlagen, Era. Niemals.“ Ich öffnete die Tür und übergab mich auf die Straße.

Era gab mir einen Kuss auf die Stirn, als sie mir die Wasserflasche reichte, damit ich den säuerlichen Geschmack aus meinem Mund bekommen konnte.  Es erwärmte mein Herz so verdammt sehr, dass sie sich solche Sorgen um mich machte, obwohl ich ja gar nicht mehr oft zuhause war.

Der Rest der Fahrt verlief ruhig, nur manchmal unterbrochen durch meine kleine Schwester, die noch immer das Autokennzeichenspiel spielte wie als junges Mädchen. Es tat so gut, dass sich wenigstens ein paar Sachen nicht änderten, egal wie groß und erwachsen Era geworden war. Direkt nachdem ich geparkt hatte, umarmte ich sie so fest es mir möglich war und hielt sie noch eine ganze Weile an mich gedrückt, bevor ich dann ausstieg und unsere Rucksäcke und Seile aus dem Kofferraum holte.

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