Kapitel 26

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„Heilige Scheiße", bringt Caldwell fassungslos hervor. Sein Blick liegt mit weit aufgerissen Augen auf der Biosphäre, die im Sonnenuntergang schimmert wie die Sonne selbst, die sich gerade in den Erdboden frisst. Sie sind noch weit von ihr entfernt und doch ist sie sofort das Zentrum aller Aufmerksamkeit, wenn man den höchsten Punkt der Hügelkette erreicht hat.

Selbst Selena, Conor und Flint, die nicht zum ersten Mal hier sind, sehen mit fasziniertem Ausdruck nach vorne. Der Anblick erfüllt Rainn mit einem gewissen Stolz, den sie sich nicht recht erklären kann. Das hier ist nicht mehr länger ihr Zuhause und sie hat wenig dazu beigetragen, dass der Ort so beeindruckend ist, wie er ist. Aber sie begreift nun, dass er immer ein Teil von ihr bleiben wird. Etwas wird stets hierbleiben, wenn sie diesen Ort wieder verlässt.

Durch die Spiegelung der Sonne erkennt man nicht viel vom Inneren und Rainn ist sich sicher, dass das auch Absicht war, als man die Biosphäre konstruierte. Von innen heraus sieht man diese Spiegelung nicht, die es einem nun so schwer macht zu erkennen, was sich dahinter tut.

Sie würden etwas erkennen, wenn sie näher herankämen. Und genau das sieht ihr Plan auch vor. Sie reißt ihren Blick wieder ab und sieht zu Caldwell hinüber. „Ihr müsst euch verteilen und verstecken. Wir müssen von nun an damit rechnen, dass sie jederzeit eintreffen können und ich weiß nicht wie lange es dauern wird."

Caldwell schaut nur äußerst ungern von der Szenerie vor ihm weg, aber er tut es schließlich und nickt, noch immer verstört von den Eindrücken. Dann räuspert er sich. „Gehst du alleine?"

„Ich komm mit", schiebt Conor sofort ein, bevor Rainn darauf reagieren kann. Sie schenkt ihm nur einen kurzen, dankbaren Blick.

„Das da vorne ist 'ne Glaswand", spricht Selena gereizt und deutet mit dem Zeigefinger wackelnd in Richtung Biosphäre. „Ich hoffe, dass ist euch klar, wenn euch die letzten nächtlichen Aktivitäten noch nicht gereicht haben."

Daraufhin folgt leises Lachen der anderen. Rainn schmunzelt. Sie hat ihre Drohung, sich an Selena zu rächen, durchaus wahr gemacht. Das und vielleicht ist auch eine gewisse, innere Verzweiflung dabei gewesen. Eine Angst davor, dass alles schrecklich enden wird und sie und Conor sich nie wieder so nah sein werden. Aber darüber haben sie beide nie gesprochen, sondern es nur immer wieder in den Blicken gesehen, die sich im Moment der Leidenschaft ineinander verkeilten.

„Danke für den Tipp, aber Zuschauer stören uns nicht, wie du weißt", erwidert Rainn. Selbst Caldwell unterdrückte daraufhin ein Schmunzeln. Die Zeit, die sie nun gemeinsam unterwegs sind, hat ihr gezeigt, dass hinter all der strengen und autoritären Fassade ein freundlicher und besorgter Mann steckt. Wie anders ihr erster Eindruck von ihm nur gewesen ist. Sie erinnerte sich daran, wie er ihr gedroht hat, Milo etwas anzutun, wenn sie ihm nicht sagt, was er hören will. Im Nachhinein ist sie sich sicher, dass er nur geblufft hat. Aus reiner Brutalität heraus, hätte er ihm nie etwas getan.

„Gut", versucht Caldwell das Thema wieder auf wichtigere Dinge zu lenken. „Wir verteilen uns und halten uns versteckt, aber haben euch immer im Auge. Ihr müsst euch nur Richtung Hügelkette bewegen und wir werden es sehen. Sobald du weitergekommen bist, erstattest du uns Bericht." Er sieht zu Rainn, deren Schmunzeln nun wieder verschwunden ist. Sie nickt entschlossen.

Dann trennen sie sich. Rainn und Conor nähern sich der Biosphäre aus der Richtung, die Rainn sie damals auch verlassen hat. Auf dieser Seite befindet sich fast ausschließlich der innere Waldabschnitt. Das Risiko von da aus entdeckt zu werden, ist äußerst gering und wenn überhaupt dann nur von ...

Rainn kann nicht einmal daran denken, wer dort auf sie warten könnte, weil sie sonst das Gefühl hat, dem Pferd die Sporen zu geben und innerhalb des letzten Abschnittes vollkommen die Kontrolle zu verlieren. Sie darf sich jetzt nicht mit dem auseinandersetzen, was der Anblick in ihr auslöst. Es ist gut, dass Conor an ihrer Seite reitet, den Blick dabei verkrampft auf das Gebilde vor ihnen. Conor lässt den unbändigen Wunsch danach, wieder nach Hause zurückzukehren, schwächer werden. Er ist ein Teil ihres Zuhauses. Ohne ihn würde sie nun, selbst mit ihrem Vater und Juniper um sich herum, in der Biosphäre verwelken wie eine Blume ohne Wasser.

THE OTHER SIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt