Kapitel 1

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Kapitel 1
Ich prallte gegen etwas Hartes. Der Inhalt des Kaffeebechers, der zuvor noch meine Hände erwärmte, ergoss sich jetzt über das weiße Hemd eines Mannes. Als ich meinen Blick nach oben schweifen ließ, registrierte ich mit großen Augen, dass es ein sehr hübscher Mann war, der dunkelbraune Haare und Augen von demselben Ton besaß, die mich jetzt ungeniert musterten. Augenblicklich schoss mir das Blut ins Gesicht und ich senkte den Blick auf sein Hemd, das einen auffälligen braunen Fleck aufwies.
>>Dein Hemd!<<, rief ich nur dummerweise aus, und hätte mir für die Nennung dieser so offensichtlichen Tatsache in den Hintern kneifen können. Hastig nahm ich ein paar Servietten vom Kaffeetisch, und fing an, sein Hemd damit abzutupfen; was eine ziemlich unangenehme Tätigkeit war, denn so war ich ihm ziemlich nah. Zu nah. Er roch nach Zitronengras. Bevor ich einen Schritt zurücktreten konnte, nahm er schon meine Hand sanft in seine; zog mir die Serviette weg und warf sie in den Mülleimer.
>>Vergiss mein Hemd, das muss ich nachher sowieso zur Reinigung bringen, es tut mir eher leid um deinen Kaffee.<< Seine samtige, doch gleichzeitig dunkle Stimme beruhigte meine Nerven, dennoch würde ich am liebsten im Boden versinken.
>>Aber jetzt musst du den ganzen Tag mit einem braunen Fleck auf dem Hemd rumlaufen. Lass mich dir wenigstens die Reinigung bezahlen<<, sagte ich und fing schon an, in meiner Tasche nach meinem Geldbeutel zu kramen.
>>1. liebe ich Cappuccino, wenn auch nicht unbedingt auf meinem Hemd<<, er legte ein schiefes Grinsen auf, welches mein Herz einen Sprung machen ließ, >>und 2. musst du mir gar nichts bezahlen, weil ich die Schuld auf mich nehme. Und weil ich die Schuld auf mich nehme, bitte ich dich darum, es mich bei einem Kaffee wiedergutmachen zu lassen.<< Instinktiv wich ich einen Schritt zurück, denn was ich jetzt tat, würde nicht leicht werden.
>>Es tut mir echt leid, aber ich habe keine Zeit im Moment<< Eine Lüge. In Wirklichkeit hatte ich mehr als genug Zeit. Wie ich Lügen doch hasste. Doch er ließ sich nicht beirren; ihm klebte immer noch das Grinsen im Gesicht.
>>Ich habe doch noch gar nicht gesagt, wann<< Verdammt.
>>Das wäre auch nicht nötig, da ich in nächster Zeit nie Zeit habe.<<, versuchte ich es zu retten. Ich war echt eine miserable Lügnerin.
>>Wirklich nie?<<, wiederholte er ungläubig. Bestätigend nickte ich, und hoffte, er würde einfach aufgeben. >>Das ist echt schade. Naja, wenn du nie Zeit hast, kann man nichts machen. Würdest du mir dann wenigstens deinen Namen nennen, damit ich mich in der Reinigung für diesen etwas komisch aussehenden Fleck rechtfertigen kann?<< Um mein Lachen zu verstecken hüstelte ich angestrengt, und wurde dabei rot wie eine reife Tomate.
>>Mein Name ist Lily<<, brachte ich mühsam hervor, während er mich wie vorhin ungeniert musterte. Unter seinen Blicken fühlte ich mich nackt und durchschaubar. Ich widerstand dem starken Drang, meine Arme vor meinem Körper zu verschränken.
>>Lily<<, sagte er, als müsse er sich erst an den Klang meines Namens auf seiner Zunge gewöhnen, >>es war mir eine Freude, dich kennengelernt zu haben, Lily.<< Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und ging den Gang entlang, in die Abteilung der Geschichtsbücher. Die Art, wie er meinen Namen aussprach, bescherte mir eine Gänsehaut. Ich atmete geräuschvoll aus, und war froh, dass die Bücherei fast leer war. So bekam niemand die peinliche Szene mit ihm mit. Ich fischte aus meiner Tasche ein wenig Geld und kaufte mir damit einen neuen Kaffee am Kaffeeautomaten. Beim Umdrehen achtete ich diesmal sorgsam darauf, mit
niemandem zusammenzustoßen. Mit dem Kaffee in meiner Hand ging ich zu meinem Platz, wo ich mein Lernzeug schon auf dem Tisch ausgebreitet hatte.                                                                                                                                                                                         
Ich begann, mich in den Lernstoff einzuarbeiten, und versuchte, diese Begegnung so weit es ging zu ignorieren; doch immer mal wieder schweiften meine Gedanken ab zu ihm. Seine braunen Augen, die mich von unten nach oben musterten. Die Muskeln, die ich unter seinem Hemd zu spüren bekam, als ich sein Hemd abtupfte. Die Einladung auf ein Date... war das überhaupt ein Date? Vielleicht wollte er ja eigentlich nur nett sein, und es kam nur falsch bei mir an. Und selbst wenn er interessiert war, würde er sowieso das Interesse verlieren, wenn er mich ohne Oberteil sähe. Meine Narben hatten schon einen Jungen in die Weite getrieben; wieso sollte es bei ihm anders sein? Ich schüttelte den Kopf und wimmelte die Gedanken ab; konzentrierte mich so gut es ging auf mein Lernzeug. Immer mal wieder checkte ich auf meinem Handy ab, ob ich Nachrichten von meinen Freundinnen bekam, und ob ich neue Benachrichtigungen auf meinen Social Media Netzwerken hatte. Nach einer Weile wurde ich, trotz des Cappuccinos, erschöpft, und ich beschloss, zurück nach Hause zu gehen. Als ich meine Sachen gepackt hatte, verließ ich träge die Bücherei, die für mich schon wie ein zweites zu Hause geworden war. Ich kam fast jeden Tag nach der Schule hier her um in den Gängen zu stöbern und zu lernen. Inmitten von all den Büchern fühlte ich mich einfach am wohlsten.
Die kalte Winterluft umgab mich, als ich nach draußen trat. Ich fröstelte leicht und zog meinen Mantel etwas enger um mich.
Während ich nach Hause lief, spielte ich alle hypothetischen Szenen in meinem Kopf durch, wie es noch hätte anders verlaufen können. So vertrieb ich mir immer die Zeit, wenn ich eine Weile laufen musste. Nicht unbedingt eine gesunde Angewohnheit von mir.
An der Haustür empfing mich freudig mein Hund Tommy, den ich bekommen hatte, als ich 14 geworden bin. Er war ein schwarzer Dobermann, voll ausgewachsen. Ich kraulte ihm die Ohren, während er langsam rückwärts lief. Ein weitläufiger Flur mit mehreren Türen rechts und links erstreckte sich vor mir. Die erste Tür links führte in die Küche, aus der schon ein Duft von frisch gekochtem Essen herausströmte. Ich zog mir den Schal und den Mantel aus, hängte diese an der Garderobe auf und verstaute meine Stiefel in der Kommode. Mein Hund rannte aufgeregt durch den Flur und wedelte mit dem Schwanz, wie immer, wenn ich für eine Weile wegblieb. Meine Mom kam gerade aus der Küche; sie hatte eine Kochschürze im Retro-Style um und schwenkte einen Holzlöffel in der Hand.
>>Das Abendessen ist fertig<<, meinte sie; ich ließ mir das nicht zweimal sagen.
Ich aß mit meinen Eltern in unserer kleinen, wie in einem Landhaus eingerichteten, Küche.
>>Wie war heute dein Tag, Schatz?<<, wollte meine Mutter wissen, während sie sich noch ein wenig von dem Salat auf den Teller schöpfte. Unwillkürlich musste ich an die Begegnung mit dem Mann denken. Ich hoffte, ich wurde nicht allzu rot, als ich sagte:
>>Ach, er war nichts besonderes, ich bin nach der Schule noch in die Bibliothek gegangen und hab, ähm, noch ein bisschen gelernt<< Dad zog die Augenbrauen hoch, äußerte sich aber nicht weiter dazu. Wie schon gesagt, ich war eine miserable Lügnerin.
>>Übrigens, dein Dad und ich fliegen morgen nach Irland. Wir sind dann ungefähr eine Woche weg.>> Meine Eltern waren beide Spitzenchirurgen, und das war nicht das erste Mal, dass sie so weit gereist waren. Sie waren schon auf allen Kontinenten und haben Leben gerettet. Auch wenn sie nicht oft zu Hause waren, bewunderte ich sie umso mehr dafür.
Tommy setzte sich neben mich auf den Boden und schaute mich mit seinen treudoofen Augen an. Mein Herz wurde weich, und ich gab ihm ein kleines Stück von meinem Putenbrustfilet.
>>Muss ich nachher noch mit Tommy spazieren gehen?<<, erkundigte ich mich, denn manchmal übernahm auch mein Dad die Aufgabe, wenn er seine morgendliche Joggingrunde im Wald drehte.
>>Das wäre echt gut, wenn du das machen könntest<<, sagte er. Ich nickte und warf einen Blick aus dem Fenster; die Sonne war noch nicht untergegangen und stand zum Glück noch nicht so tief am Horizont, also musste ich mich nicht so sehr beeilen. Ich stopfte die letzten Reste in mich hinein, band Tommy die Leine um, zog mich wieder an und nahm zur Sicherheit eine Taschenlampe mit. Dann verließ ich unser Haus.
Wir wohnten etwas außerhalb der Innenstand, in der Nähe des Waldes. Wenn man den Wald komplett durchlief, und sich den Berg hinauf kämpfte (was gar nicht so einfach war, da der Schnee hier immer sehr hoch fiel, und man aufpassen musste, nicht auszurutschen), kam man zu einer Aussichtsplattform, auf der man auf die ganze Stadt hinabsehen konnte. Wenn man oben war, kam man sich so groß vor; als könne man die gesamten Geheimnisse der Bewohner auf einem Blick erhaschen.
Da ich noch ein wenig Zeit hatte, bis die Sonne untergegangen war, wandte ich mich in Richtung Wald. Am Eingang lag noch etwas weniger Schnee, doch das würde sich ändern, je tiefer man sich in den Wald hineinbegab. Ich lief gemütlich mit Tommy eine Runde, hatte aber nicht vor, bis ganz nach oben zu laufen, das würde ich ein anderes Mal machen. Es knatschte und knirschte unter meinen Füßen und Tommys Pfoten. Wir hinterließen Abdrücke, an denen ich mich später auf dem Heimweg orientieren würde, sofern der Neuschnee die Spuren nicht verwischte. Ich dachte wieder zurück an die Begegnung mit dem Mann, und wie ungeniert mich dieser gemustert hatte. Eigentlich sollte ich beim Gedanken daran im Boden versinken, doch ich spürte nur eine Wärme in meinem Bauchbereich. Ich vertrieb die Gedanken an ihn, schließlich würde ich ihn ja sowieso nie wieder sehen. Wie wahrscheinlich war es schon, dass er genauso eine Leseratte wie ich war, und auch seine Tage fast ausschließlich in der Bibliothek verbrachte? Richtig, das war extrem unwahrscheinlich.
Tommy fühlte sich pudelwohl, und hatte schon bald alle seine Geschäfte verrichtet. Da die Sonne sich langsam dem Horizont näherte, machte ich mich mit ihm auf dem Heimweg. Auf der Hälfte musste ich meine Taschenlampe einschalten, da es schon relativ dunkel geworden war. Das, und die Tatsache dass der neue Schnee tatsächlich unsere Spuren verwischt hatte, verlangsamte uns ungemein. So kamen wir erst zuhause an, als es bereits stockdunkel war.

Da Freitag war, musste ich heute sonst nichts mehr für die Schule machen, also schaltete ich Netflix ein; entspannte mich auf meinem Bett, umwickelt mit einer Kuscheldecke und einer Tasse Kakao, und schaute Stranger Things. Tommy kuschelte sich an meine Seite. Mit langsam zufallenden Augen beobachtete ich, wie Eleven Mike und die anderen Jungs wieder einmal aus einer Zwickmühle holte.
Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich das nächste mal meine Augen aufmachte, war ich schon bei der übernächsten Folge. Noch leicht benommen vom Schlaf machte ich den Fernseher und das Licht aus, aber ich konnte noch lange nicht einschlafen. Zahlreiche Gedanken strömten mir durch den Kopf, die mich wach hielten. Ich beschloss, meinen Stapel ungelesener Bücher zu verringern, der schon ein Ausmaß von 22 Bücher erreicht hatte. Bevor ich anfing zu lesen, setzte ich meine Lesebrille auf, die ich eigentlich nur daheim anhatte.
Nach dem ich das neunte Kapitel beendet hatte, wurde ich endlich müde, also legte ich das Buch weg. Bevor mir die Lider zu fielen, war mein letzter Gedanke, dass er mir gar nicht seinen Namen genannt hatte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 26, 2019 ⏰

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