Nach dem Frühstück sagte ich allen, ich würde mich in meine Gemächer zurückziehen. Ein Vorwand, um ungesehen in Vaters Bibliothek zu schleichen, was uns zwar nicht ausdrücklich verboten war, aber Vater sah es nicht gern, weil er dort sein Arbeitszimmer hatte und nicht wollte, dass wir alles durcheinander brachten.
Nur Sylvester nahm ich mit, denn ich konnte Hilfe gut gebrauchen und wusste, dass er es für sich behalten würde. Kurz bevor ich die schwere Eichentür aufdrückte, sahen wir uns auf dem Korridor um, nur um sicher zu gehen. Dann schlüpften wir nacheinander hinein und achteten darauf, die Tür nicht einfach zufallen zu lassen, um keinen Lärm zu veranstalten.
Die Bibliothek war groß. Dunkle Regale verdeckten die Wände und bildeten schmale Seitengänge, in denen es nach Leder roch. Der Kamin, vor dem ein rotbezogenes Sofa stand, war unbenutzt und diente als Ablage für Vaters kleine Golduhr, die unentwegt tickte.
»Wonach suchen wir, Lucy?«, fragte mein Bruder neugierig. »Nach allem, das etwas mit dem Monster zu tun haben könnte«, erklärte ich und versuchte an seinem Gesichtsausdruck abzulesen, ob ich ihm nicht doch zu viel zumutete. Schließlich war er noch ein Kind. Sylvester seufzte gefasst und nickte dann: »Ich fange im unteren Regal an« Stolz wuschelte ich ihm durch die dunklen Haare, woraufhin er leise kicherte.
Dann duckte er sich unter meinem Arm hindurch und ließ sich vor der Wand aus Büchern nieder. Ich wusste, dass es eine halbe Ewigkeit dauern würde, alles durchzusehen, aber eine Alternative fiel mir nicht ein. Also seufzte ich entschlossen und machte mich an die Arbeit.
Wir begannen im Regal, das der Tür am nächsten war und arbeiteten uns in Richtung Kamin. Nach etwa einer Stunde hatten wir einen beachtlichen Stapel Bücher zusammen und ich hievte die schweren Wälzer auf Vaters Arbeitstisch. Kreaturen der Wälder entpuppte sich als Jagdhandbuch, in dem verschiedene Tierarten aufgezählt wurden, von denen keine den Eindruck machte, als würde sie Blut saugen. Auch Robert und die Nachtgestalten war eine Enttäuschung, genauso wie jedes andere Buch, das wir durchgingen.
Der Stapel wurde immer kleiner und am Ende waren wir genauso schlau wie zuvor. Sylvester lag auf dem Sofa und streckte gelangweilt die bestrumpften Beine in die Luft. »Ich glaube wir müssen uns etwas neues überlegen, Lucy!«.
Frustriert schob ich das letzte Buch beiseite. »Hast du eine bessere Idee?« fragte ich und legte meinen Kopf auf der Tischplatte ab. Dabei fiel mein Blick auf eines der Blätter, das bis eben unter den Büchern verborgen gewesen war. Es stach mir ins Auge, weil die Tinte rot war und nicht schwarz wie üblich. Ich wusste, dass mich nichts davon etwas anging und ich besser die Finger davon lassen sollte, aber meine Neugierde war zu groß. Was konnte es schon schaden einen Blick darauf zu werfen?
Vielleicht stand dort etwas, das mir helfen könnte und da wäre ich doch sehr dumm, wenn ich es einfach ignorierte! Ehe ich mich anders entscheiden konnte, griff ich danach und zog es vorsichtig näher zu mir. Sylvester hatte sich inzwischen aufgerappelt und hinter mich gestellt.
»Was ist das?« fragte er neugierig und legte sein Kinn auf meiner Schulter ab. »Sieht aus wie ein Brief« antwortete ich und betrachtete ihn näher. Der Brief umfasste kaum eine viertel Seite, aber die Buchstaben sahen elegant und sorgfältig aus, ganz anders als Vaters gekritzelte Handschrift.
Mein lieber Eros, stand darauf.
Ich respektiere deine Entscheidung, auch wenn mir dies nicht leicht fällt. Besonders, da du leider nicht der einzige bist. Jedoch hoffe ich darauf, dass sich eines Tages unsere Wege wieder kreuzen mögen. Cui honorem, honorem.
Unterschrieben hatte ein gewisser Agamemnon, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. Ebenso wenig von Eros, weshalb ich mich wunderte, was dieser Brief auf Vaters Schreibtisch zu suchen hatte. »Was bedeutet der letzte Satz?« fragte ich an Sylvester gewandt.
Der zuckte nur mit den Schultern »Irgendwas mit Ehre, glaube ich. Oder Stunde?« Ratlos schüttelte er den Kopf. »Ich kann noch nicht so viel Latein«.
»Das merke ich«.
»Haha, sehr witzig!« sagte er beleidigt und schmiss sich wieder aufs Sofa. Ich las den Brief erneut durch. Und dann noch ein drittes Mal, bis etwas meine Aufmerksamkeit erregte.
Da du leider nicht der einzige bist, hatte es dort geheißen. Nicht der einzige. Nicht der einzige. Nicht der einzige.
Aber natürlich! Wenn dieses Monster, was immer es auch war, wirklich Menschenblut trank, konnte Vater unmöglich das einzige Opfer gewesen sein. Es musste noch andere Menschen geben, denen dasselbe wiederfahren war. Und ich wusste auch schon genau, wo ich mit meiner Suche beginnen konnte.
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Meinungen in die Kommis :)
Lena
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Die sterbliche Baronin
FantasyEngland, 1774 Die Londoner Adelsgesellschaft lebt ausgelassen und ohne Sorgen. Mit rauschenden Bällen, prunkvollen Soirees und der neusten Mode aus Frankreich kann man sich leicht die Zeit vertreiben. Lucinda Phillipa Hastings ist Teil dieser Welt...