Ryan:
Ein leises Geräusch, eine Art Klingeln, riss mich kurz aus meinem Schlaf. Murrend schob ich den Kopf tiefer in die Armbeuge und schloss meine Hand etwas fester um Athenas. Aber statt Haut und Wärme ertasteten meine Finger nur das kalte Bettzeug. Schlagartig war ich wach und starrte auf das leere Krankenbett vor mir. Die Infusionsnadel baumelte an ihrem Schlauch, das EKG war stumm und dunkel und die Sensoren lagen vor der Maschine. Das gibt's doch nicht, die ist einfach abgehauen! Auch wenn die Verletzung jetzt versorgt war, hatte sie doch noch nicht die Kraft, jetzt schon wieder aufzustehen und die Praxis zu verlassen! Warum wollte sie sich nicht helfen lassen, egal was man tat? Wütend schoss ich von meinem Stuhl und in den dunklen Flur hinaus. Die Glastür war geschlossen, alles sah aus wie immer. Ich ging zum Medikamentenschrank und hätte ich nicht genauer nachgesehen, hätte ich nicht bemerkt, dass mehrere Packungen Schmerzmittel fehlten. Ich ging zur Tür und entdeckte das immer noch leicht schwingende Windspiel, welches mich geweckt hatte. Sie konnte noch nicht lange weg sein. Ich riss die Tür auf, hetzte zum Treppenhaus und ins Erdgeschoss hinauf, dann links und stand mit pulsierender Wutader vor der Tür zum Mädchentrakt. Als ich meine ID-Karte vor den Scanner hielt, ertönte nur eine monotone Stimme: „Schüler Ryan Fieldings ist der Zugang nicht gestattet."
Ich schlug vor Wut fast den Scanner aus der Wand. Verdammt nochmal, was stimmte mit diesem Mädchen nicht? War es so schwer, Hilfe anzunehmen? Sicher, wir sind Einzelkämpfer mit einem gesunden Misstrauen, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Was muss ihr zugestoßen sein, dass sie so schlecht von anderen Menschen denk?
Plötzlich ertönten Schritte auf dem Flur, wahrscheinlich hatte der Scanner einen gescheiterten Zutrittsversuch gemeldet und eine der Wachmänner war bereits auf dem Weg. Durch meine ID-Karte konnte ich unmöglich leugnen, dass ich hier war, aber ich hatte jetzt einfach keine Lust auf ein Gespräch ala „Was wolltest du um diese Uhrzeit im Mädchentrakt?". Seufzend drehte ich mich um und verschwand in der Dunkelheit. Morgen früh würde ich sie mir krallen, und dann wird sie mir einiges erklären müssen.
Am nächsten Morgen postierte ich mich direkt nach dem Frühstück neben der Tür zu unserem Klassenzimmer, mit der festen Absicht, Athena abzufangen und eine Erklärung von ihr zu verlangen. Ich wusste nicht wie, aber sie kam ins Klassenzimmer, ohne dass ich sie bemerkte. John machte mich mit Handzeichen darauf aufmerksam, dass sie gerade die Treppe zu ihrem Platz hochgehen wollte. Na warte, die hole ich mir. Nach einem kurzen Sprint hatte ich Athena erreicht, packte ihren Oberarm und wollte sie aus dem Raum schleifen, als plötzlich etwas Kaltes an meinen Hinterkopf gedrückt wurde und es in der Klasse ganz leise wurde. Das metallische Klicken tönte dadurch umso lauter durch den Raum. Ich wusste schon, was mich erwartete, aber als ich langsam den Kopf drehte und direkt in die Mündung einer Beretta schaute, musste ich schon schlucken. Athenas Gesicht war eine Maske, aber ihre eisblauen Augen sprühten Funken und nagelten mich an Ort und Stelle fest.
„Lass mich sofort los oder ich jage dir eine Kugel in den Kopf, Fieldings.", ihre Stimme war pures Eis. Natürlich wusste ich, dass sie mir, ohne mit der Wimper zu zucken, abdrücken würde, aber ich wollte mir nicht noch eine Niederlage eingestehen.
„Dann erklär mir, was das gestern Nacht sollte!", forderte ich sie auf und versuchte nach Kräften die Pistolenmündung an meiner Stirn zu ignorieren. Erst als Raunen und Geflüster aufkam, bemerkte ich, was ich gerade gesagt hatte. Na toll, jetzt dachten alle, ich hätte was mit Athena. Sie kniff die Augen zusammen.
„Ich wüsste nicht, was letzte Nacht gewesen sein sollte. Und jetzt lass mich los.", ihr Ton war, wenn überhaupt möglich, noch eisiger geworden. Ich umschloss ihren Arm noch einmal fester, aber ich hatte verloren.
„Wir reden später weiter", raunte ich ihr ins Ohr und hatte schon einen ungefähren Plan, wie ich an sie rankommen könnte.
Ein letztes Zupacken an ihrem Arm, dann ließ ich sie los, setzte mich auf meinen Platz und ignorierte sie den Rest des Tages stoisch. Ich wartete auf heute Abend, denn da würde sie mir Antworten geben, ob sie wollte oder nicht.
„Also gut, hier ist meine ID, damit du in den Trakt reinkommst. Bis heute Nacht, Ryan, ich freue mich auf dich.", hauchte mir Samantha Lee, eine kleine Asiatin mit riesigen Hüften ins Ohr, bevor sie sich umdrehte und davonging. Es war überraschend leicht gewesen, sie davon zu überzeugen, dass wir heute Nacht ein wenig Spaß haben sollten und ich dafür ihre ID-Karte brauchte. Natürlich hatte ich nicht vor mit Samantha zu schlafen, obwohl es eine Zeit gegeben hatte, in der ich solch ein eindeutiges Angebot nicht abgelehnt hätte, aber das war, bevor Athena gekommen war. Kurz runzelte ich die Stirn, verwirrt darüber, dass Athenas Auftauchen und meine Lustlosigkeit, mich mit Mädchen in den Lacken zu wälzen, fast gleichzeitig waren, aber ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Das war ja lächerlich! Als ob Athenas Anwesenheit sich so auf mich auswirken konnte. Genau in diesem Moment schlug mir John dermaßen auf den Rücken, dass ich fast gegen die Spinde geflogen wäre.
„Na? Ich sehe, du bist wieder der Alte. Hat ja auch ganz schon lange gedauert, bis dir diese Maroon aus dem Kopf gegangen ist. Ich hab mir fast schon Sorgen gemacht.", grinste er mich an, ehe er etwas skeptisch Samantha Lee hinterher schaute, die gerade hinter einer Ecke verschwand.
„Aber warum du ausgerechnet Lee nehmen musstest, verstehe ich nicht. Da gibt es bessere. Aber ich verstehe schon, du willst nach deiner langen Abstinenz erst mal wieder langsam rangehen, richtig?", schon wieder lag dieses dreckige Grinsen auf Johns Gesicht und ich verdrehte die Augen.
„Lee ist nur Mittel zum Zweck. Durch sie komme ich in den Trakt der Mädels rein.", antwortete ich und wedelte mit der ID-Karte vor Johns Nase herum, ehe ich sie wieder in meiner Hosentasche versenkte. Ich sah, wie sich die Rädchen in John Kopf begannen zu drehen und nach einer Rekordzeit von eineinhalb Minuten erhellte das Verständnis sein Gesicht, nur um gleich darauf wieder in Missmut umzuschlagen.
„Alter, jetzt sag nicht, du hast Lee nur angemacht, damit sie dir ihre ID gibt, du in den Trakt reinkommst und Maroon wieder stalken kannst.", John schüttelte den Kopf.
Ryan verstand gar nicht was los war.
„Natürlich deswegen. Und ich will Athena nicht stalken, ich will nur mit ihr reden. Weshalb sonst sollte ich mich an Lee ranmachen?", antwortete er mit völligen Unverständnis, während John nur die Augen verdrehte und sich fragte, was zum Teufel mit seinem besten Freund los war.
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Shadow Children - Prison
AcciónRyan ist ein Shadow Child - ein Kind, welches es nicht geben dürfte. Deshalb geht er auf die Jinei-Academy, wo Kinder wie er auf ein Leben voller Gefahren vorbereitet werden. Kinder von Agenten, Spionen, politisch Verfolgten, Regierungsmitgliedern...