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Den Abend verbringe ich allein in meinem Zimmer. Ich kann meinen Eltern nicht in die Augen sehen. Schon das Abendbrot war reiner Horror für mich. Sie haben mich mein Leben lang angelogen. Von wegen wir sind die perfekte Cyborg Familie. Von wegen es gibt niemand Aussätzigen in unserer Familie. Ich raufe mir die Haare. Schon immer habe ich mir Verwandte abgesehen von meinen Eltern und Großeltern gewünscht. Und jetzt ist da jemand. Aber sie ist fern. Vollkommen aus jeder Reichweite. Soll ich meine Eltern darauf ansprechen? Ich will endlich Klarheit. Klarheit über meine Familie. Vielleicht ist das nicht das einzige was sie mir verschwiegen haben. Was ich jetzt tun werde, ist wie der Sturz in eine Löwengrube. Langsam schlage ich die Decke zurück unter der ich mich vergraben habe, und tapse zur Tür, die nur angelehnt ist. Unten läuft der Fernseher. Wahrscheinlich sitzen meine Eltern davor und schauen sich irgendeine Sportveranstaltung an. Nervös gehe ich die Treppe hinunter und betrete das Wohnzimmer.

„Was ist denn Schatz? Wieso bist du noch wach? Kannst du nicht schlafen? Soll ich dir eine heiße Milch mit Honig machen?", besorgt kommt meine Mutter auf mich zu.

„Nein, nein Mom", wehre ich ab, „ich will eigentlich mit euch reden. Würdet ihr euch aufs Sofa setzten" Immer noch besorgt dreinblickend lässt sich Mom neben meinem Vater nieder, der weniger besorgt als neugierig drein blickt.

„Also was ist los? Hast du dich entschieden?"

„Nein Dad, habe ich nicht. Es geht um was anderes."

„Okay, und um was?"

„Wieso habt ihr mir verschwiegen, dass ich eine Tante habe? Mom,", ich schaue meiner Mutter direkt in die Augen, „Wieso hast du nie von deiner kleinen Schwester erzählt?"

Sie zuckt zusammen. Anstatt zu antworten, schaut sie hilflos zu meinem Vater, der auch für sie einspringt.

„Wir hielten das nicht für wichtig."

„Ihr haltet es nicht für wichtig mir zu erzählen, dass ich eine Tante haben?!", meine Stimme wird schriller, „Gibt es noch andere Sachen die ihr nicht für wichtig haltet. Vielleicht habe ich ja noch einen Bruder, den ihr aber auch nicht für wichtig haltet."

„Schatz", Dad kommt auf mich zu und will mich in den Arm nehmen.

„Nein Dad", abwehrend halte ich die Hände vor mich, „fass mich nicht an." Er geht ein paar Schritte zurück.

„Wir hielten es nicht für wichtig, weil es dir nur unnötige Probleme und Sorgen breitet hätte. Und wir halten es immer noch nicht für wichtig. Marie ist kein Teil mehr unserer Familie. Sie war von dem Moment an kein Teil mehr, als sie sich gegen das C.B. Programm gewandt hat. Sie ist kein Teil mehr von uns, verstehst du? Sie hat keine Bedeutung. Und sie wird auch für dich keine Bedeutung haben."

Ich starre ihn an. Noch nie habe ich ihn so kaltherzig über jemanden reden gehört.

„Sie hat keine Bedeutung mehr für uns", er sieht mich eindringlich an, „deshalb bin ich der Meinung wir beenden das Gespräch an dieser Stelle und gehen ins Bett. Ich will kein Wort mehr über deine Tante hören." Er hilft meiner Mutter auf, die leichenblass auf dem Sofa sitzt und führt sie die Treppe hinauf.

Ich höre sie noch mit erstickter Stimme fragen, „Wie hat sie das herausgefunden? Wie hat sie das nur herausgefunden?"

Ich setzte mich auf das Sofa, lege eine Decke über mich und rolle mich zu einer Kugel zusammen. Ich versuche die Gedanken an das Gespräch zu verdrängen und zähle Schäfchen bis ich in einen tiefen Traumlosen Schlaf falle.

Am nächsten Morgen liege ich nicht mehr auf dem Wohnzimmer Sofa, sondern oben in meinem Bett. Die Vorhänge sind noch zugezogen, aber ich höre die Vögel zwitschern. Es riecht nach Frühling, Kaffee und frischen Brötchen. Wie jeden Samstagmorgen. Ich öffne die Augen und schaue an meine weiß gestrichene Decke. Alles wirkt als sei alles normal. Als hätte das Gespräch gestern nie stattgefunden. Ich folge dem Frühstücksgeruch in die Küche, wo meine Eltern schon beide am Tisch sitzen, Kaffee trinken und Zeitung lesen.

NirnayWhere stories live. Discover now