„Bei allem Verständnis und gutem Willen kann ich mir nicht vorstellen, was du jetzt noch wollen kannst?" Jesper blickte Sylvie über seinen vollgeräumten Schreibtisch hinweg an.
„Wir haben von einem halben Jahr gesprochen", sagte sie ruhig. „Das halbe Jahr ist beinah um, ich wollte wissen, ob du mittlerweile irgendwelche Ideen hast."
Jesper schüttelte ungläubig den Kopf und sah noch verständnisloser drein. „Ich dachte alles hätte sich in Wohlgefallen aufgelöst, nachdem du in die Innenpolitikredaktion gewechselt bist."
„Vincents Idee war, dass ich im Wahlkampf die Fakten checken soll. Vor einem Monat ist er noch davon ausgegangen, dass das schon bald sein könnte. Aber es sieht jetzt nicht mehr danach aus."
„Nun ja, spätestens im Juni muss gewählt werden. Ob der Staatsminister davor neue Wahlen ausruft, oder nicht, macht kaum einen großen Unterschied", entgegnete Jesper.
„Eben. Wahlen im Juni werden immer wahrscheinlicher. Bis dahin ist es aber fast ein halbes Jahr. Ich kann Vincent gerne aushelfen, wenn es soweit ist, aber bis dahin will ich auch was Sinnvolles machen. Ich will meinen Posten nicht nur haben, weil irgendwer Mitleid mit mir hatte, oder mit den Tanten in der Hygge-Redaktion, denen es mit mir über kurz oder lang zu blöd geworden wäre."
„War das nicht genau umgekehrt?", warf Jesper ein. „Sei froh, dass du nicht mehr dort bist. Vincent wird doch irgendwas für dich zu tun haben."
„Darum geht es nicht. Ich will keine Beschäftigungstherapie. Ich will meinen alten Job zurück." War das denn so schwer zu verstehen. Es mochte schon sein, dass es in der Branche immer wieder verlangt wurde, dass man sich in neue Abteilungen und Gebiete einarbeitete. Aber das war nicht ihre Auffassung. Es war interessant die Nase in die Innenpolitik zu stecken, aber das war nicht ihr Ding. Sie wollte bei dem bleiben, was sie wirklich gut konnte und nicht irgendwo herumdilettieren und so tun, als hätte sie eine Ahnung.
Jesper seufzte und verlagerte sein Gewicht im Bürosessel. „So leicht wie du denkst ist das nicht ..."
„Ach ...? Und warum nicht?"
„Weil deine Stelle mit der Umstrukturierung gestrichen wurde, das weißt du ganz genau. Und das Mitarbeiterbudget für die Auslandsredaktion ist ausgeschöpft. Außerdem, solange nicht klar ist, ob du überhaupt nach Russland einreisen darfst ..."
„Aber, ich bitte dich. Dieser Soloschenko hat doch mittlerweile Besseres zu tun. Wann bist du nur so ein Hasenfuß geworden. Früher, als du noch nicht Chefredakteur warst, hast du dich wesentlich mehr getraut."
„Ja, damals war ich auch noch nicht Chefredakteur. Und ich verstehe immer noch nicht, warum ich hier mit dir herumdiskutiere. Hab Geduld, es wird sich was ergeben. Du kannst das ganz einfach aussitzen. Hast du nicht jede Menge Überstunden? Die solltest du abbauen, das wäre jetzt die ideale Gelegenheit. Anschließend kannst du dir deinen Resturlaub vornehmen. Während der letzten Jahre hast du ja einiges angesammelt. Ich könnte dir entgegenkommen und dich nach der Wahl für ein Jahr karrenzieren. Dann könntest du die Chance für Weiterbildung nutzen, oder um dich neu zu orientieren."
„Neu orientieren? Verdammt, ich will mich nicht neu orientieren. Ich mag meienen Job. Meinen Job, den du einfach so hast streichen lassen. Ich will ihn zurückhaben!" Es war doch zum Verrücktwerden. Bevor sie im Sommer nach Turin geflogen war, war alles in Ordnung gewesen. Sie hätte einfach nie wegfahren sollen.
„Sylvie, jetzt flieg mich nicht so an, du tust glatt so, als wäre das meine Schuld. Überleg dir das mit der Karrenz. Du musst dich nicht sofort entscheiden."
„Den Teufel werde ich tun", schnaubte sie. Sie wusste, dass sie sich unfair verhielt. Das hier war nicht mehr die Zeitung, bei der sie angefangen hatte. Die Welt stand nicht still. Und so eine Bildungskarrenz war etwas auf das Andere jahrelang hofften, und nun bot er ihr das einfach so an. Aber das machte man eben so mit unbequemen Mitarbeitern, die man nicht ganz rausschmeißen wollte.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
General FictionManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...